1.5
Niklaus von Flües Vision vom erschreckenden Gottesantlitz,
sein
Radbild,
das Siegel Salomos und Wolfgang Paulis Weltuhr-Vision
In Brief [30] erwähnt Pauli seinen Besuch im Ranft
und schreibt, dass die Visionen ihn „ausserordentlich
fasziniert“ hätten, und dass er „sofort eine sehr starke
Beziehung dazu“ gespürt habe. Wir werden uns daher mit zwei
dieser Visionen eingehender auseinander setzen.
Einige dieser Visionen sind in der an Niklausens
asketischer Behausung angebauten Kapelle an die Wand gemalt. Pauli
muss sie daher bei seinem Besuch gesehen haben. Er findet Niklaus
von Flüe ein schlagendes Beispiel dafür, dass das Leben von
einem Extrem in das Andere umschlagen könne, seine Neurose, das
heisst, die Wespenphobie, habe ihn jedoch davon abgehalten,
ebenfalls ein derartiger „weltabgewandter, unintellektueller
Eremit mit ekstatischen Zuständen und Visionen“ zu werden.
Diese Aussage erstaunt. Wie wir in Appendix I und
Appendix II gesehen haben, wäre es eben der Aufbau des introvertierten
Eros-Bewussteins gewesen, der in die Möglichkeit einer Beziehung
zum kollektiven Eros hinein geführt hätte, die uns der Schweizer
Mystiker in beispielhafter Weise vorgelebt hat. Dass Pauli
unbewusst in derartige mystische Zustände hinein geworfen wurde,
zeigt schon seine Weltuhr-Vision aus dem Jahr 1932, in der er ein
Gefühl der „sublimsten Harmonie“ erlebt hatte.
Der Grund der Wespenphobie liegt also viel eher im
Nichtvorhandensein eines derartigen "unintellektuellen"
mystischen Bewusstseins.
Am meisten beeindruckte den Physiker die sogenannte
Trinitäts-Vision[1],
die Marie-Louise von Franz in Ihrem Buch Die
Visionen des Niklaus von Flüe die Vision des erschreckenden
Gottesantzlitzes nennt[2]
(vgl. Abb. unten links). Wie dem Leser sofort auffällt, ist in
ihr eigentlich eine Doppel-Trinität dargestellt. Dieses fremde
und daher erschreckende neuartige Gottesbild wurde von Niklaus im
Laufe der Zeit in einem Prozess der Verarbeitung der Vision in das
heute berühmte Radbild transformiert (vgl. Abb. unten rechts).
Pauli – der ja die vermeintlich unbegründete
Angst von seiner Wespenphobie her kennt – weist mit Recht darauf
hin, dass der Schrecken, den diese Vision dem Eremiten eingejagt
hatte und ihm wie ein Weltuntergang vorgekommen sein müsse, nie
in deren Erklärung mit einbezogen worden sei[3].
Dann verweist er auf einen meines Wissens nicht erhaltenen Traum
von den drei Riesenpferden, der ihn ähnlich erschreckt
habe. Die Trinitätsvision Niklausens und sein Pferdetriade-Traum
erinnerten ihn an „einen Traum, wo sich die Trinität in die 3
Rhythmen (die ‚Weltuhr’) verwandelt hat“. Diese Bemerkung
aus dem Jahr 1934 stellt einen ersten Hinweis auf die oben erwähnte
Weltuhr-Vision
von 1932 dar, die uns später noch intensiv beschäftigen wird.
Der Physiker bringt also schon sehr früh die erschreckende Gottesvision
und damit implizite das Radbild des Niklaus mit der Weltuhr-Vision
zusammen. Wir werden uns mit diesem zentralen Symbol des Niklaus,
das auch für die mystische Entwicklung des 21. Jahrhunderts eine
grosse Rolle spielen wird, unten daher noch eingehender
auseinandersetzen. Es sei hier jedoch schon angefügt, dass das
Radbild eine Vervollständigung des Siegels Salomos darstellt,
indem es dieses mit der Symbolik des alchemistischen Pelikans
verbindet und damit des ersteren inhärente Herz- und
Eros-Symbolik noch vertieft.
Wir werden weiter sehen, dass das Siegel Salomos
Pauli in seinen weiteren Visionen und Träumen zeit seines Lebens
geradezu verfolgen wird. Da Pauli Halbjude war, von seiner jüdischen
Herkunft jedoch nichts wusste, weil sein Vater zum Katholizismus
konvertiert war und seinem Sohn dies verschwieg, könnte man
annehmen, dass dieses Symbol in ihm auftaucht, damit er über
seine Wurzeln bewusst wird. Das Siegel Salomos ist jedoch, wie der
jüdische Mythenforscher Gershom Scholem nachgewiesen hat (vgl. Carl
Jung’s Depth Psychology, Quantum Physics and Archetypal
Psychosomatics),
kein ursprünglich jüdisches Symbol, sondern kam erst im frühen
Mittelalter über christliche Quellen in die Kabbalah, die jüdische
Mystik.
Das Siegel Salomos ist, wie ich dort ebenfalls
gezeigt habe, in erster Linie ein Symbol des Eros und findet sich
daher in der Mystik der fünf grossen Weltreligionen. Es gehört
immer zum Herz, zu jenem Ort, wo der Mensch und Gott sich in der
mystischen Ekstase begegnen[4].
Damit haben wir einen weiteren Hinweis darauf erhalten, dass in
Wolfgang Pauli das Prinzip des kollektiven Eros und damit die
Entwicklung eines Eros-Bewusstseins (vgl. dazu Appendix II)
konstelliert war. Da die tiefenpsychologische Erfahrung zeigt,
dass ein Symbol meist aus den Träumen verschwindet, wenn dessen
tiefster Inhalt erkannt worden ist, das Siegel Salomos den
Physiker im Gegensatz dazu jedoch ein Leben lang verfolgte, können
wir schliessen, dass er die Aufgabe der Integration nicht gelöst
hatte.
Da Pauli die Beziehung des Bewusstseins zum
kollektiven Eros erkenntnistheoretisch und nicht auf der Basis der
inneren Erfahrung begründen wollte (vgl. dazu Appendix
I), wird er auch die Wespenphobie nie ganz überwinden,
obwohl er Jung schon im April 1934 schreibt (Brief [29]), dass
„das Objekt der Angst sich (wenigstens teilweise) von den Wespen
[abzu]lösen beginnt“[5].
Wie C.A. Meier nämlich bezeugt[6],
reagierte Pauli auch viel später noch immer mit einer grossen
Angst, sobald eine Wespe in seine Wohnung hinein geflogen kam.
Hypothetisch
können wir also schliessen, dass die lebenslange Wespenphobie
Paulis und die damit zusammenhängenden Angstzustände tatsächlich
mit einer Gegensatzproblematik zwischen dem
Logos
und dem Eros in Paulis Seele zu tun haben,
dass dahinter
jedoch letztlich ein
kollektives
Problem auftaucht,
nämlich die
Vernachlässigung des Eros-Bewusstseins und seine Beziehung zum
Eros-Archetypus in der Naturwissenschaft.
Weiter
erscheint es als wahrscheinlich, dass das ungelöste Problem des
Einbezugs des kollektiven Eros in Pauli und in der
Naturwissenschaft
sich
in der
Symbolik der Weltuhr-Vision von 1932 äussert, die ihrerseits mit dem Siegel
Salomos und dem Radbild
des Niklaus von Flüe zusammen hängt.
Diese
drei Symbole würden demnach die Einseitigkeit des physikalischen
Weltbildes kompensieren. Die
zu
lösende
Aufgabe
besteht
daher
darin, den
Sinn dieser Symbolik zu extrahieren und in einer dem modernen
Menschen verständlichen Sprache zu beschreiben.
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