Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)


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Der Archetypus der mystischen Hochzeit in der Alchemie und im Unbewussten des heutigen westlichen Menschen

(Teil 2)


Inhalt:

Teil 2:

4. Die unio corporalis des Gerardus Dorneus

4.1 "Zerreisset die Bücher, damit eure Herzen nicht gebrochen werden"

4.2 Der Einbezug des Körpers mit Hilfe der inferioren Funktion

4.3 Der Austausch der Attribute und die Körperzentrierte Visualisierung   

4.4 Geist-Seele und Körper-Seele, Yang und Yin, Logos und Eros

4.5 Inhalt und Ziel des Rosariums: Ein Schöpfungsmythos im Mikrokosmos des menschlichen Körpers

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5. Die zweifache Erlösung der Weltseele aus der Materie

5.1 Das Siegel Salomos als unerlöste und der denarius (Zehnzahl) als erlöste Weltseele

5.2 Die erlöste Weltseele als die rotatio des rotundums (Rotation des Runden) und die hermetische Alchemie

5.3 Die rotatio des rotundums im Unbewussten Wolfgang Paulis und C.G. Jungs und die zukünftige unio corporalis

5.4 Das Erlebnis der Weltseele (anima mundi) im Mittelalter

5.5 Die Geburt der Naturwissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert

5.6 Die Zerstörung der Einheit der Weltseele und deren Reduktion auf die Prinzipien der physikalischen Energie und der Kraft

5.7 Die Projektion der Weltseele auf die Infinitesimalrechnung

5.8 Die Folgen der ersten Erlösung der Weltseele

5.9 Das Problem der Vervollständigung des alchemistischen Opus: Die zweite Erlösung der Weltseele

6. Der denarius (Zehnzahl) als Prozess und Ziel des Opus

6.1 Prozess und Ziel im mikrokosmischen und im makrokosmischen Opus

6.2 Eine allgemeine Beschreibung des alchemistischen Opus

6.3 Physik und Jung'sche Tiefenpsychologie als erste coniunctio in der unio mentalis

6.4 Die unio corporalis und die zweite coniunctio in einer modernen Terminologie

6.5 Das Siegel Salomos, die Quadratur des Kreises, die Quintessenz und die Quaternität

6.6 Die quaternäre Struktur des Bewusstseins in der Typologie C.G. Jungs und das komplementäre Eros-Bewusstsein

7. Der Archetypus der coniunctio im heutigen westlichen Menschen 

8. Der Obelisk und die Inkarnation des unus mundus 

9. Das UFO und das Lebenselixier der unio corporalis

                   


 

Der Archetypus der mystischen Hochzeit in der Alchemie und im Unbewussten des heutigen westlichen Menschen

Remo F. Roth, Horgen-Zürich

(Teil 2)

 

4. Die unio corporalis des Gerardus Dorneus  

 

4.1 "Zerreisset die Bücher, damit eure Herzen nicht gebrochen werden"

In der Fortsetzung des Rosariums fällt nun der Tau vom Himmel auf die Grabstätte des toten Hermaphroditus (vgl. Abbildung). Der Tau symbolisiert die Psyche, die aber, weil sie vom Himmel herunter kommt, nun eben der Geist-Psyche entspricht. Ihre Vereinigung mit dem toten Körper deutet Jung als die "Erzeugung eines neuen volatilen ... Wesens, dem corpus, anima et spiritus zukommen, wobei corpus als ein ‘subtile’, ein Hauchkörper, verstanden ist".

Wie die Interpretation dieses Teils des alchemistischen Textes durch den Tiefenpsychologen zeigt, hat sich auch für ihn in dieser Phase des Opus in der Welt des Körpers eine Wandlung vollzogen, auf die er jedoch nicht näher eingeht. Dieses Schweigen ist verständlich, da Jung ja selbst erklärt, dass seine Aktive Imagination der unio mentalis entspricht, der Einbezug des Körpers jedoch erst zu einer auf diese folgende Stufe des Opus gehört, nämlich zur so genannten unio corporalis (s. dazu unten).

[Einschub vom 12.3.2005: Über die moderne unio corporalis, die ich in meiner Körperzentrierten Imagination vorschlage, siehe die folgenden Artikel, in denen die Begriffe definiert werden:

Wolfgang Pauli, das Prinzip des kollektiven Eros und dessen kosmogonische Bedeutung: Definition des Prinzips des kollektiven Eros, mit dem der Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli sich intensiv beschäftigte. Es ist die Welt des Eros-Archetypus hinter dem Selbst C.G. Jungs.

Das Eros-Bewusstsein als Erweiterung von C.G. Jungs Typologie: Definition des von mir postulierten Eros-Bewusstseins als Ergänzung der Typologie C. G. Jungs. Ein weiterer Baustein zur Vervollständigung meiner psychophysischen Theorie.

Die Körperseele, das Bauchhirn und die introvertierte Empfindung (sensation) als Instrumente des Eros-Bewusstseins: Beschreibung des in meiner bipolaren Theorie zum Gehirn und Zentralnervensystem komplementären Bauchhirns und seiner Wahrnehmungsfunktion. ]

Wie wir gesehen haben, interpretiert der Tiefenpsychologe den alchemistischen (!) Text als ein Beispiel von Übertragung und Gegenübertragung, die ihrereseits eine ganz spezifische Problematik der psychoanalytischen Methode darstellt. Er scheint jedoch zu ahnen, dass an dieser Stelle des Opus, an der dessen moderne Entsprechung, die Aktive Imagination, endet, die Herausforderung des Aufbaus des Hauchkörpers (subtle body) für das Leben nach dem Tod beginnt. 

Das Rosarium zeigt uns nämlich in eindrücklicher Art und Weise, dass der Aufbau des Hauchkörpers in den Kontext der coniunctio-Symbolik gehört. Dieser subtle body hat daher sehr viel mit dem archetypischen Hintergrund des sexuellen Problems zu tun, das sich im therapeutischen Setting zwischen Arzt und Klientin beziehungsweise zwischen Aerztin und Klient konstelliert. Die Einsicht in diese Tatsache würde meines Erachtens vielen Therapeuten, die ihre Klientinnen sexuell missbrauchen, die Augen für den archetypischen Hintergrund ihrer Übergriffe öffnen und andererseits vielen Klientinnen äusserst schmerzliche Erfahrungen ersparen.

Dass diese Phase des Opus mit einem Ende der logosbetonten unio mentalis beziehungsweise der Aktiven Imagination und dem bewusst gelebten Übergang in die Welt des Eros zu tun hat, zeigt auch eine weitere Umschreibung von deren Voraussetzung: "Weißet das Schwarze und zerreißet die Bücher, damit euere Herzen nicht gebrochen werden". Jung deutet dies als ein Aufgeben des bloß intellektuellen Standpunktes (sacrificium intellectus) und den Einbezug des Gefühls. Meines Erachtens ist dieser kritische Moment des Individuationsprozesses jedoch auch damit verbunden, die eigenen Vorurteile - auch und vor allem die so genannt wissenschaftlichen - zu hinterfragen und sich einer um die innere Wahrnehmung erweiterten Empirie zu öffnen.

Obwohl Jung auch kurz auf die Notwendigkeit des Einbezug der Empfindung, das heisst, der "fonction du réel" eingeht, bezieht er diese jedoch nur auf die Aussenwelt und unterlässt es, sie auf den eigenen Körper anzuwenden. In seiner Terminologie ausgedrückt, könnten wir sagen, dass er den äusserst wichtigen Aspekt des introvertierten Einbezugs der Empfindung auf den eigenen Körper übersieht. Infolge dieser Beschränkung gelingt es ihm auch nicht, die Erfahrung der von mir so genannten "Innenansicht des Körpers" in die imaginative Methode einzubeziehen, und der Aufbau des Hauchkörpers unterbleibt.

Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob C.G. Jung darüber bewusst war, dass seine geistbetonte Aktive Imagination nicht in die von ihm erwähnte "Erzeugung des Hauchkörpers" hinein führen konnte. Die ausschliessliche Betonung der extravertierten Empfindung in seinem Werk, das heisst, die Betonung der Nowendigkeit der Anpassung an die äussere Welt mit Hilfe der fünf Sinne, lässt darauf schliessen, dass dies nicht der Fall war. Es ist daher auch folgerichtig, dass eine eigentliche Weiterentwicklung der Aktiven Imagination, in der die Möglichkeit eines subtle body, das heisst, der Einbezug der von mir so genannten "Innenansicht des Körpers" möglich wird, sich meines Wissens innerhalb der institutionalisierten Jungschen Psychologie nicht vollzogen hat, obwohl eine Synchronizität Wolfgang Paulis bei der Gründung des Zürcher C.G. Jung-Institutes auf die dringende Notwendigkeit einer psychophysischen Forschung hingewiesen hatte (vgl. dazu Wolfgang Pauli's Fludd/flood Synchronicity...)

Marie-Louise von Franz hat hingegen diesen Aufbau des subtle body in ihren späten Jahren intensiv gesucht. In ihrem letzten Buch Traum und Tod hat sie uns viele historische Amplifikationen darüber hinterlassen. Zu meiner grossen Freude konnte ich feststellen, dass sie sich infolge ihrer schweren Krankheit dann auch an die praktische Seite der unio corporalis heran wagte (vgl. My Personal Memories of Marie-Louise von Franz).

 

4.2 Der Einbezug des Körpers mit Hilfe der inferioren Funktion

Meine therapeutische Erfahrung hat mir gezeigt, daß die Integration des Körpers in den Individuationsprozess, die im obigen Bild des Rosariums beschrieben wird, nur mit der Hilfe einer Annäherung an die inferiore Funktion vollzogen werden kann. Daher ist es ganz folgerichtig, wenn Jung als Denktypus den Einbezug des Gefühls fordert, das eben seiner inferioren Funktion entsprach.

C.G. Jung unterscheidet in seiner Typologie des Bewusstseins vier Funktionen, die ihrereseits extravertiert oder introvertiert gelebt werden können. Es sind dies das Denken und sein Gegenteil, das Gefühl einerseits, die Empfindung (in deren Bedeutung der engl. sensation, d.h. der fünf Sinne) und die Intuition andererseits. Dabei sind Denken und Gefühl sowie Empfindung und Intuition absolute Gegensätze. Ein Mensch entwickelt während seines Lebens eine so genannte Hauptfunktion; er kann dazu zwei weitere als so genannte auxiliäre oder Hilfsfunktionen entwickeln. Die vierte Funktion, die im Fall des Denktypus dem Gefühl, im Fall des Empfindungstypus der Intuition, et vice versa entspricht, ist absolut entwicklungsunfähig. Sie ist daher inferior, das heisst, minderwertig. Sie ist direkt mit dem kollektiven Unbewussten verknüpft und daher in einem archaischen Zustand. Meist wird sie verdrängt, drückt dann jedoch in den Freudschen Fehlleistungen unbewusst durch. Die Bestimmung der Hauptfunktion und der ihr entsprechenden inferioren Funktion und deren anschliessender bewusster Einbezug in den psychischen Energiehaushalt entspricht einer der wichtigstene Aufgaben des Jungschen Individuationsprozesses. 

Mit der Hilfe meiner oben angetönten allgemeineren Hypothese ergibt sich die Forderung, dass in jenem Prozess, der auf die Aktive Imagination folgt oder im Krankheitsfall diese ersetzt und der im obigen Bild dargestellten Fortsetzung des Rosariums entspricht, jede mögliche inferiore Funktion und nicht nur, wie in Jungs Fall, das Gefühl einbezogen werden sollte. Konkret gesagt heisst dies, dass beispielsweise ein intuitiver Typus seine Empfindungsfunktion introvertiert auf seinen Körper beziehen sollte, eine Forderung, welche mit jener der Konzentration auf dessen "Innenansicht" identisch ist.

Ganz allgemein können wir sagen, dass die Phase des Einbezugs des Körpers ganz wesentlich in einem introvertierten Zustand und mit Hilfe des Gefühls, der Intuition und der Empfindung (der inneren Körperwahrnehmung) erfolgen sollte, während man das Denken weitgehendst ausschaltet (beispielsweise durch Atemtechniken oder durch das Abzählen von Zahlenreihen). Sofern es sich bei einer dieser Funktionen um die inferiore handelt, sollte man dieser zudem mit Hilfe eines liebenden Verständnis begegnen, denn sie entspricht letztlich dem Archetypus des göttlichen Narren, hinter dessen vermeintlichem Unsinn sich jene tiefsten Wahrheiten verstecken, die den eigentlichen Weg der Individuation aufzeigen. C.G. Jung ist diesem Trickster immer wieder begegnet und hat ihm in der Aussenwand seines Turms in Bollingen am oberen Zürichsee ein Denkmal gesetzt (vgl. Abbildung).

Dieses Verständnis für die inferiore Funktion fällt vor allem dem geistbetonten Intellektuellen sehr schwer. Er hat daher grösste Schwierigkeiten, sein inferiores und daher archaisches Gefühl auf seinen Körper anzuwenden. Ebenso erlebt der realitätsbezogene Empfindungstyp stärkste Widerstände, wenn seine archaische Intuitionen ein vordergründig völlig abstruses Bild der innerkörperlichen Vorgänge zeichnen. Der Intuitive darf seinerseits nicht erschrecken, wenn die innerlich geschauten Visionen plötzlich zu einer ganz konkret empfundenen körperlichen Realität werden, während der Gefühlstyp aus seinem Körper plötzlich Stimmen sprechen hören kann, die ihn in meist altertümlichen Redewendungen belehren wollen. In allen diesen Fällen ist zudem die Einsicht wichtig, dass das Erlebnis derartiger äusserst seltsamer Phänomene noch lange keine Gefahr einer Geisteskrankheit bedeutet, sondern eben einen archetypischen Prozess, in dem der im Laufe der Entwicklung der letzten 400 Jahre tief unbewusst gewordene Hofnarr unser Bewusstsein belehren will, das sich angewöhnt hat, sich wie ein absolut herrschender König zu gebärden.

Wie wir unten sehen werden,  bedeutet dieser Einbezug der auf den eigenen Körper bezogenen inferioren Funktion einen ganz wesentlichen Aspekt der von den Alchemisten angedeuteten Rolle des Menschen als Mitgestalter bei einem neuartigen Schöpfungsprozeß. Zugleich widerlegt diese nach innen gewandte Konzentration, die mit Hilfe der inferioren Funktion die empirische Beobachtung der "Innenansicht des Körpers" ermöglicht, das naturwissenschaftliche Vorurteil von der Nichtexistenz der letzteren.

 

4.3 Der Austausch der Attribute und die Körperzentrierte Visualisierung  

Im Rosarium wird nun der im obigen Bild durch das Fallen des Taus angedeutete Aufbau des Hauchkörpers verdeutlicht (s. Abb.). Im nächsten Bild fliegt vom Himmel her die als Kind dargestellte Geist-Seele herunter, um sich mit dem toten Körper des Hermaphroditus zu vereinigenDabei wird dieser wiederbelebt, womit ein neues Wesen entstanden ist. 

Diese Belebung des Hermaphroditus entspricht der Geburt des infans solaris, des Sonnen- oder auch Sonnen-Mond-Kindes, die beispielsweise im Opus des Alchemisten Robert Fludd geschildert wird (vgl. Neoplatonic and Hermetic alchemy: Eternal infertility versus incarnation, part 3). Darin wird dieses neue Wesen nicht etwa in das Reich der Sonne und des Geistes, sondern in eine "Zwischenwelt" zwischen Himmel und Erde, das heißt, in einen intermediären Bereich zwischen Geist und Materie hinein geboren. Es weist daher eindeutig Eigenschaften eines psychifizierten Körpers, das heißt, des subtle body, des Hauchkörpers der westlichen und des Diamantkörpers der östlichen Tradition auf. Dieses Bild des Rosariums stellt zudem eine Wiederholung des Geschehens des vorherigen Bildes (s.o.) dar, welcher Umstand zeigt, als welch wichtiges Anliegen dem anonymen Autor des Rosariums diese Phase erschien.

Die zentrale Bedeutung der Vereinigung der Geist-Seele mit dem Körper zeigt sich auch in der Alchemie des Paracelsus-Schülers Dorneus. Sie bildet dort die auf die unio mentalis folgende zweite Stufe seines Opus und nennt sich die unio corporalis. Auch ihr Hauptzweck besteht darin, die in der ersten Stufe hergestellte Geist-Seele mit dem toten Körper wieder zu vereinigen. Dabei tritt jedoch zusätzlich ein so genannter Austausch der Attribute ein: Die Geist-Seele wird körperlich, der tote Körper wird mit den Eigenschaften der Geist-Seele wiederbelebt. Es entsteht somit neben eben dieser Geist-Seele ein "Seelen-Körper" oder eine "Körper-Seele", eine sprachliche Neuschöpfung meinerseits, die zeigt, daß uns die Worte für dieses neuartige Wesen fehlen. Sie soll jedoch ebenfalls dessen subtle body-Aspekt betonen. Zudem soll mit der Wahl des Begriffs "Körper-Seele" ausgedrückt werden, daß sich die diesem alchemistischen Prozeß entsprechende tiefenpsychologische Prozedur auch auf den Körper bezieht, und daher eine Erweiterung der im Geist-Psyche-Bereich angesiedelten Aktiven Imagination Jungs darstellt. Da diese von mir entwickelte Körperzentrierte Visualisierung, die ich im Krankheitsfall Symptom-Symbol-Transformation nenne, sowohl den körperlichen als auch den subtilkörperlichen Aspekt berücksichtigt, wird sie in die Nähe der tantrischen Symbolik gerückt, in der ebenfalls der grobstoffliche Aspekt (sthula) von dessen feinstofflichem (suksma) unterschieden wird. Dabei entspricht ersterer dem vegetativen Nervensystem, letzterer der Struktur der sieben tantrischen Chakras.

Es muß aber auch an dieser Stelle sogleich betont werden, daß der Tantrismus nur als Amplifikation zum Zwecke eines besseren intellektuellen Verständnisses dieses Prozesses dient, daß der Inhalt dieser imaginativen Methode jedoch, wie bei der Aktiven Imagination Jungs, nur auf rein empirische (auf der inneren individuellen Erfahrung beruhende) Art und Weise erschlossen werden kann. Dies wiederum bedeutet, daß der von mir vorgeschlagene Visualisierungsprozeß ohne irgendwelche Vorgaben von außen (wie sie beispielsweise bei den so genannten "geführten Imaginationen" üblich sind) beginnen soll. Ganz speziell schließt dieser von C.G. Jung und Marie-Louise von Franz auch für die Aktive Imagination als absolut notwendige Bedingung geforderte Beginn der Körperzentrierten Visualisierung die heute in Mode gekommenen Verfahren aus, in denen als Vorgabe gewisse Inhalte der Chakras, beispielsweise deren charakteristische Farben, innerlich vorgestellt werden. Solche "Visualisierungen" nehmen nämlich keine Rücksicht auf die im heutigen westlichen Individuum im Moment konstellierten archetypischen Inhalte des kollektiven Unbewußten. Sie übernehmen im Gegensatz dazu eine in mehreren Jahrhunderten aus tausenden von individuellen Erfahrungen kondensierte Kollektiverfahrung, und äffen derart, wie oben schon erwähnt, die östliche Mystik in einer unzulässigen Art und Weise nach, ohne die ganz andersartige kollektive Situation des westlichen Menschen zu berücksichtigen. Eine solche kolonialistische Ausbeutung des spirituellen Schatzes des Fernen Ostens fördert daher eine Fixierung des Bewußtseins in seinen überholten Ansichten und kann somit keinen wirklichen subjektiven und objektiven Bewußtseinsfortschritt bringen.

Wie die obigen Ausführungen zeigen, habe ich auch gewisse Bedenken gegenüber den modernen Tendenzen, die sexuellen tantrischen Übungen ganz konkret nachzuahmen, wie dies im so genannten Neo-Tantrismus geschieht. Dabei identifiziert sich nämlich der männliche Partner mit dem Männlich-Göttlichen, seine weibliche Partnerin mit der weiblichen Gottheit. Gemäß Jung besteht derart die Gefahr, dass infolge dieser Kontamination das Bewußtsein von den destruktiven Inhalten des Unbewußten überschwemmt und vergiftet wird, ein Zustand, den die Alchemisten die "immunditia, die Unreinigkeit" genannt haben. Doch wie wir gesehen haben, waren schon die mittelalterlichen Gottsucher überzeugt, dass das Opus "in stercore" beginnen würde, weshalb derartige Entwicklungen vielleicht als eine Vorstufe zur introvertierten Prozedur des Rosariums angesehen werden können.

In ihrem feinen Gespür für die Gefahren des Opus haben die Alchemisten daher die Forderung aufgestellt, daß in dieser Phase eine Reinigung geschehen sollte. Psychologisch gesehen geschieht diese gemäß der Deutung Jungs, indem das Ichbewußtsein eine besonders intensive Anstrengung unternimmt, sich vom Unbewußten zu unterscheiden. Geschieht dies nicht, sind ähnlich destruktive Auswirkungen zu erwarten, wie sie infolge der Selbstvergottung der Naturwissenschaftler (Atombombe, Klimakatastrophe, Gentechnologie, usw.) schon geschehen sind, in unserem Fall also der Ausbruch kollektiver körperlicher Krankheiten (Epidemien) oder auch kollektiver Psychosen.

C.G. Jung scheint solche zukünftige Entwicklungen voraus geahnt zu haben. Er fährt in seinem Kommentar fort, indem er wieder darauf hinweist, daß die coniunctio und die Wiederbelebung des Körpers einem Prozeß entspreche, der "ein Hierosgamos der Götter und nicht eine Liebesaffäre der Sterblichen" sei und sich im kollektiven Unbewußten (das er hier das "psychische Nicht-Ich" nennt) abspiele. Infolge der Projizierbarkeit reiche dieser letztlich bewußtseins-transzendenten Vorgang jedoch in die Wirklichkeit, "indem er die bewußte und persönliche Psyche in heftigste Mitleidenschaft zieht". Und daraus entstehe dann eine von ihm so genannte Inflation, auf gut deutsch: ein Größenwahn.  

 

4.4 Geist-Seele und Körper-Seele, Yang und Yin, Logos und Eros

Doch kehren wir zum Rosarium zurück. Die Herstellung der Geist-Psyche einerseits und der Körper-Psyche andererseits, die schliesslich dem Aufbau eines Hauchkörpers beziehungsweise des Geist-Psyche-Körpers dienen, scheinen das Ziel des Opus überhaupt darzustellen. Eben dieses Ziel hatte auch Dorneus im Auge, wenn er forderte, daß die Geist-Seele mit dem toten Körper wiedervereinigt werden müsse, um derart die unio corporalis herzustellen. Das Produkt dieser Vereinigung entspricht auch bei ihm einerseits einer Einheit, die Geist, Körper und Psyche in sich enthält, ist andererseits aber auch durch eine Polarität charakterisiert, die man mit den Begriffen "Geist-Seele" und "Körper-Seele" umschreiben könnte. Sie entspricht der im taoistischen Tai Gi Tu dargestellten Einheit des Tao, die sich in der energetisch-dynamischen Polarität von Yin und Yang äussert.

Während sich in der christlich-westlichen Kultur aus der archetypischen Geist-Seele (Yang) im Laufe der letzten Jahrhunderte das heutige westliche Bewußtsein, die res cogitans des Descartes, entwickelte, die den (von außen betrachteten!) Körper - allerdings meist unter Abspaltung der Seele vom intellektuellen Geist - als die res extensa wissenschaftlich-quantitativ zu beschreiben versucht, blieb die Entwicklung der Körper-Seele (Yin) in ihren Anfängen, und damit in den bildhaften Beschreibungen des alchemistischen Opus stecken. Wir wissen daher heute sehr genau, wie die meßbare (extensa!) "Außenansicht" des Körpers aussieht, haben jedoch kaum eine Ahnung, was wir uns unter der Körper-Seele, der "Innenansicht des Körpers", wie ich diese auch nenne, vorstellen sollen. 

Hier sei nur angedeutet, daß es sich bei dieser Körper-Seele um ein Phänomen handelt, das man tatsächlich mit dem gegenteiligen Ausdruck des Descartes, mit der res intensa benennen könnte. Sie ist jedoch nur mit Hilfe des dazu erfoderlichen Bewußtseinsorgans, mit der res amans - eines vom Eros im weitesten Sinn durchdrungenen Bewußtseins, dessen Bezeichnung ich ganz bewußt als Kontrast zur res cogitans setze - beobachtbar. Es ist letztlich dieses erneuerte introvertierte Bewußtsein, das eine Beziehung zur inferioren Funktion und damit die Visualisierung ermöglicht (s.u.).

Die vielen Hinweise im Rosarium auf die Entwicklung eines bewußten Herzstandpunktes mit Hilfe einer Reinigungsprozedur, in der das "Zerreißen der Bücher" das zentrale Anliegen darstellt, dürften daher der halb bewußten Ahnung dieser auch heute noch in der Zukunft liegenden Aufgabe des Aufbaus einer res amans, eines von mir so genannten introvertierten Eros-Bewusstseins entsprechen, die durch die cartesianische Entwicklung vorerst unterbrochen wurde. Doch scheint es, dass das immer drängender werdende UFO-Problem uns in eine Umkehr hinein zwingen will (vgl. dazu unten und A New Melody, a New Genesis).

 

4.5 Inhalt und Ziel des Rosariums: Ein Schöpfungsmythos im Mikrokosmos des menschlichen Körpers

Das Produkt der coniunctio entspricht, wie wir gesehen haben, dem infans solaris und damit dem Kind-Archetypus, der seinerseits etwas ganz Neues darstellt, das sowohl den rein physischen als auch den rein geistigen Aspekt transzendiert, und daher mehr als die Summe der beiden darstellt. Diese Herstellung des "ganz Anderen" geschieht im Rosarium im Mikrokosmos, beschreibt somit einen Schöpfungsmythos im menschlichen Körper. Es ist der - für jeden Menschen verschiedene - Aufbau des Hauchkörpers für die Wiederherstellung der Gesundheit und für die Garantie eines individuellen Lebens im Jenseits (vgl. dazu Paracelsus and the Renewed Image of God und Was uns die Träume über ein mögliches Leben nach dem Tod sagen). Mit dem Kind-Archetypus ist dieser Prozess insofern verbunden, als die notwendige Voraussetzung dafür der Aufbau des von mir so genannten Eros-Bewusstseins (res amans) darstellt, der seinerseits am besten mit dem "Werdet wie die Kinder" der Bibel umschrieben werden kann. 

Damit sind wir beim zehnten und letzten Bild des Rosariums (s. Abb.). Ich will es hier vorläufig ohne Kommentar einfach anfügen, da zu dessen Verständnis noch einige weitere Untersuchungen nötig sind. Hier sei einfach angemerkt, dass das Ziel des Opus hier der denarius, das heisst, die Zehnzahl darstellt. Es entspricht dem lapis (Stein) anderer Alchemisten, dem infans solaris des Robert Fludd und der roten Tinktur des Gerardus Dorneus.

Gerardus Dorneus beschreibt die Herstellung der roten Tinktur auch als eine dritte Stufe seines Opus, die der unio mentalis und der unio corporalis folgt. Wenn nämlich in der unio corporalis die Belebung des Körpers mit Hilfe des Lebenselixiers erreicht ist, kann sich der Alchemist mit dem so genannten unus mundus vereinigen, mit der potentiellen Welt vor der christlichen Genesis, um so diese in einer neuen, jederzeit möglichen Schöpfung (creatio continua) zu inkarnieren. Dieses Erlebnis ist gemäss Dorneus identisch mit der mystischen Einheit des (ganzen) Menschen mit der Gottheit.

Der denarius des Rosariums stellt seinerseits, wie die obigen Ziele des Opus, ein doppelgeschlechtliches Wesen dar (Androgyn). Es entspricht natürlich dem Hermaphroditus, der nun dank der aktiven Mithilfe des Menschen im Opus wiedergeboren ist und lebt. Er ist nicht etwa, wie der berühmte Mensch des Vitruvius und Leonardo da Vincis (s. Abb.), durch die Zahl 5 charakterisiert, sondern sein eindeutiges Merkmal ist die doppeltriadische Strukur (3+3=6), denn er besitzt zwei Beine, zwei Arme und zwei Köpfe. Er entspricht dem so genannten Anthropos, dem Urmenschen, sozusagen dem Prototyp des Menschen. In seiner rechten Hand trägt er drei Schlangen, in der linken eine.

Eine hervorstechende Eigenschaft des denarius ist die so genannte multiplicatio. Diese bedeutet eine Ausstrahlung, die sich auf die ganze Welt, ja sogar auf das gesamte Universum auswirken soll. Diese Eigenschaft  entspricht einem weiteren Ziel, der Herstellung des philosophischen Goldes, das, einmal produziert, seine ganze Umgebung vergolden soll.

All diese vielen alchemistischen Ausdrücke, die meist noch lateinisch geschrieben werden, dürften für die Leserin und den Leser an dieser Stelle vielleicht noch etwas "spanisch" oder "esoterisch" tönen. Um nicht in die reine Phantasiewelt eben dieser Neo-Esoterik abzuheben und statt dessen unsere Seele wie im Rosarium von den himmlischen Gefilden zurück auf die Erde zu bringen, wird es daher unsere Aufgabe sein, die alchemistischen Termini mit einem Inhalt zu füllen, der einerseits in der heutigen Umgangssprache formuliert und andererseits an empirisch erfahrbare Erlebnisse angebunden werden kann. Erst auf diese Weise wird sich zeigen, wie modern derartige alchemistische Vorstellungen von einem individuellen Schöpfungsprozess sind. Bevor wir diese Arbeit weiter führen können, müssen wir uns nun jedoch auf die makrokosmische Ebene begeben um derart verstehen zu lernen, wie sich die unio mentalis, die erste Stufe des Opus des Dorneus, beziehungsweise die Abtötung des Körpers im Rosarium, in der makrokosmischen Welt der Naturwissenschaft durchgesetzt hat. 


Teil 3 (folgt)


 

siehe auch die weiteren Artikel über Hauchkörper-Forschung

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26.5.2003