Praxis für Alternative Psychosomatik und Traumdeutung, Dr. Remo F. Roth, CH-8001 Zürich

Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)

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Wolfgang Paulis psychophysischer Monismus als Voraussetzung für eine neue Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes 

1. Teil


"Am eindrucksvollsten war mir die zentrale Bedeutung, den der Begriff ‚Inkarnation', als naturwissenschaftliche Arbeitshypothese gefasst, in Ihrem Gedankensystem einnimmt. Dieser Begriff ist mir besonders interessant, weil er erstens überkonfessionell ist (‚Avatara' im Indischen) und weil er zweitens eine psycho-physische Einheit ausdrückt. Mehr und mehr sehe ich im psycho-physischen Problem den Schlüssel zur geistigen Gesamtsituation unserer Zeit und die allmähliche Auffindung einer neuen ("neutralen") psycho-physischen Einheitssprache, die symbolisch eine unsichtbare, potentielle, nur indirekt durch ihre Wirkungen erschliessbare Realität zu beschreiben hat, erscheint mir auch als eine unerlässliche Voraussetzung für das Eintreten des neuen von Ihnen vorausgesagten hieros gamos."

Wolfgang Pauli an C.G. Jung, 1952 [WB 4/I, S. 631]


Inhalt: 

1. Der Pauli-Effekt mit der umgestürzten chinesischen Vase bei der Gründung des C.G. Jung-Institutes

2. Wolfgang Paulis wissenschaftliche Kritik an C.G. Jung und seinem Institut

3. Die neuplatonische und die hermetische Richtung der Alchemie

4. Die Komplementaritätsidee der Quantenphysik und die hermetische Alchemie

5. Das Scheitern der Alchemie am psychophysischen Problem und die unsichtbare psychophyische Realität 


 

1. Der Pauli-Effekt mit der umgestürzten chinesischen Vase bei der Gründung des C.G. Jung-Institutes 

Der Quantenphysiker Wolfgang Pauli (1900 bis 1958) und der Tiefenpsychologe C.G. Jung (1875 bis 1961) standen in der Zeitspanne des Jahres 1930 bis zu Paulis Tod im Jahr 1958 in einem sehr intensiven wissenschaftlichen Austausch, der unter anderem durch ihren Briefwechsel dokumentiert wird. Dieser wurde erstmals im Jahr 1992 durch C.A. Meier, einem Zürcher Arzt und Psychotherapeuten, der beiden freundschaftlich verbunden war, publiziert. In den Jahren 1996 und 1999 wurde ein Teil dieser Briefe - jene aus den Jahren 1950 bis 1954 - auch im wissenschaftlichen Briefwechsel Wolfgang Paulis publiziert. Darin finden sich zudem weitere Briefe an seinen Kollegen Markus Fierz und an die Mitarbeiterinnen C.G. Jungs, Marie-Louise von Franz und Aniela Jaffé. Obwohl uns die Briefe der letzten vier Jahre in Paulis Leben noch nicht zur Verfügung stehen, lässt sich aus dem bisher Publizierten ein abgerundetes Bild über Paulis Beziehung zu C.G. Jung, aber vor allem auch zu den Jungianern im Allgemeinen erkennen. Das Bemühen Paulis und Jungs ging dahin, die Bedingungen einer Vereinigung von Physik und Tiefenpsychologie zu schaffen. Es blieb jedoch bei vereinzelten Lösungsansätzen, und auch die Nachfolger der beiden genialen Forscher, die modernen Physiker und Tiefenpsychologen, unternahmen wenige bis keine Ansätze, das Problem in seiner ganzen Tiefe anzugehen und nach Lösungen zu suchen. An dieser Stelle soll daher gezeigt werden, welche theoretischen Hintergründe und meist unbewussten Vorurteile eine weitere Annäherung der beiden Wissenschaften verhindern. Dabei soll vor allem auf den tiefenpsychologischen Aspekt dieses weiterhin bestehenden Grabens eingegangen werden.

Am Anfang der Auseinandersetzung mit der von Wolfgang Pauli angestrebten Vereinigung von Physik und Tiefenpsychologie steht ein so genannter Pauli-Effekt. C.G. Jung hatte den Nobelpreisträger Wolfgang Pauli aufgrund seiner weltweiten wissenschaftlichen Reputation angefragt, ob er sich als Gründungsmitglied des geplanten C.G. Jung-Institutes in Zürich zur Verfügung stellen wolle. Dieser akzeptierte und nahm Anfang 1948 an der Eröffnungsfeier teil. Bei seinem Betreten des Saales fiel aus unerklärlichen Gründen ohne äussere Einwirkung eine mit Wasser gefüllte chinesische Vase zu Boden. Pauli war sehr beeindruckt von diesem parapsychologischen Ereignis. In einem Brief an Jung vom 16. Juni 1948 schreibt er:

"Als bei der Gründung des C.G. Jung-Institutes jener lustige ‚Pauli-effekt' der umgestürzten Blumenvase erfolgte, entstand bei mir sofort ein lebhafter Eindruck, ich sollte ‚innen Wasser ausgiessen' (um mich der symbolischen Sprache zu bedienen, die ich von Ihnen gelernt habe). Als sodann die Beziehung zwischen Psychologie und Physik in Ihrer Rede einen verhältnismässig breiten Raum einnahm, wurde es mir noch deutlicher, was ich tun sollte. Das Resultat ist der Aufsatz, den ich Ihnen hiemit sende."

Er sei weder für eine Publikation noch für einen Vortrag bestimmt, sondern diene der Auseinandersetzung über diese Probleme der Vereinigung von Physik und Tiefenpsychologie.

Bei diesem "Aufsatz" handelt es sich um die Schrift Moderne Beispiele zur "Hintergrundsphysik" vom Juni 1948, die C.A. Meier 44 Jahre nach deren Entstehen im oben erwähnten Briefwechsel zwischen Pauli und Jung publiziert hat. Er versucht darin eine von ihm so genannte "neutrale Sprache" zu finden, das heisst, Begriffe zu schaffen, die Physik und Tiefenpsychologie übersteigen um so der Schaffung einer "Hintergrundsphysik" dienen zu können.

Zwei Monate nach der Abfassung dieser Schrift kommt Pauli in einem Brief an Fierz auf die Gründungsversammlung des C.G. Jung Institutes zurück. Er meint wieder, dass die Beziehung von Physik und Psychologie in Jungs Rede einen verhältnismässig grossen Raum eingenommen habe. Doch sei er mit dessen Formulierung, dass "die Quaternität ... auch dem Wesen des beobachteten, mikrophysischen Vorganges inhärent" sei, nicht einverstanden. Um seine Meinung als Physiker und als einzelnes Individuum mitzuteilen, habe er einen "kleinen Aufsatz" abgefasst und an Jung geschickt. Damit meint er wieder seine "Hintergrundsphysik", deren Entstehen, wie wir gesehen haben, dem parapsychologischen Phänomen des "Wassergusses" zu verdanken ist.

Pauli kündet dann die Übersendung einer Kopie dieses Artikels an und bemerkt, worin seines Erachten dessen Essenz bestehe: "Die Hauptsache ist mir darin meine eigene Interpretation der Quaternität und deren Beziehung zu Physik + Psychologie". Mit dieser Formulierung spricht er das Lieblingsprojekt der nächsten Jahre an. Er will nämlich nichts weniger, als die Physik mit der Tiefenpsychologie C.G. Jungs vereinigen (vgl. dazu Wolfgang Pauli and Parapsychology). Diese Vereinigung soll mit einem Quaternitätsbegriff einher gehen, der sowohl Physik als auch Tiefenpsychologie umfasst, der aber Jungs Auffassung der Quaternität widerspricht.

Ohne Zweifel hat Pauli diesen "Wasserguss" als synchronistisches Phänomen angesehen. Da dieser Pauli-Effekt anlässlich der Gründung des C.G. Jung-Institutes geschah, und er zu dessen Gründungsmitgliedern gehörte, dürfte dessen Inhalt und Sinn, den Pauli mit Hilfe seiner "Hintergrundsphysik" zu ergründen suchte, auch mit der zukünftigen Aufgabe dieses Institutes zu tun gehabt haben. Mit anderen Worten: Das von Jung entdeckte und mit einem "vorbewussten Wissen" (C.G. Jung) ausgestatte kollektive Unbewusste wollte der versammelten Festgemeinde zeigen, in welche Richtung die Forschung an diesem Institut gehen sollte.

Die symbolische Entschlüsselung des von Pauli parapsychologisch ausgelösten "Wassergusses" kann uns also zeigen, worin diese Aufgabe bestanden hätte. Mir ist leider nicht bekannt, ob Pauli die Symbolik des Aquarius - des astrologischen Tierkreiszeichens, das in diesem Jahrhundert beginnen und den neuen Hintergrund des astrologischen Aeons von mehr als 2000 Jahren bilden soll - gekannt hat. C.G. Jung weist jedoch in einem späten Brief darauf hin, dass dieser Wasserguss das typische Attribut des Aquarius darstellt. In diesem astrologischen Tierkreiszeichen wird nämlich ein Mensch dargestellt, der einen Krug voll Wasser ausleert. Die Deutung des Pauli-Effektes besagt somit, dass das C.G. Jung-Institut die Aufgabe hätte, die Beziehung zwischen der Physis und der Psyche zu erforschen um derart eine neue Wissenschaft zu begründen, die sowohl die Tiefenpsychologie als auch die Physik übersteigt, um derart den Anforderungen des am Horizont aufleuchtenden neuen Zeitalters zu genügen.

 

 

2. Wolfgang Paulis wissenschaftliche Kritik an C.G. Jung und seinem Institut

Doch schon fünf Jahre nach der Gründung musste Pauli enttäuscht feststellen, dass die Qualität der Forschung an dem nach C.G. Jung benannten Institut weit unter seinen Erwartungen lag. Im März 1953 schreibt er einen Brief an seinen Freund und damaligen Präsidenten des Institutes C.A. Meier:

"Die provinzielle Atmosphäre des C.G. Jung-Instituts (in welchem sich jeder für ein verkanntes Genie zu halten scheint, weshalb auch jeder jeden anderen im Grund nicht ausstehen kann) ist einem solchen kritischen Abwägen [der wissenschaftlichen Leistungen; RFR] allerdings gar nicht förderlich, da sie für ein solches keinen genügenden objektiven Massstab zur Verfügung hat."

Später bringt Pauli in seiner Eigenschaft als Patron des C.G. Jung-Institutes seine Kritik offiziell an. C.A. Meier publiziert im oben erwähnten Briefwechsel drei Briefe Paulis aus den Jahren 1956 und 1957 an das Curatorium und an den Präsidenten des Institutes - es war Meier selbst! -, in dem er mit Nachdruck die Forderung nach mehr Wissenschaftlichkeit aufstellt. Dabei legt er vor allem Wert auf den Umstand, dass C.G. Jung immer wieder den naturwissenschaftlichen Charakter seiner Psychologie betont und sie von der Geisteswissenschaft abgegrenzt habe. Er meint:

„Dass neben dem naturwissenschaftlichen auch ein geisteswissenschaftlicher Aspekt der Psychologie existiert, ist mir wohl bekannt, ich erachte es aber nicht als meine Aufgabe, diesen zu vertreten. In dieser Verbindung möchte ich darauf hinweisen, dass früher die Psychologie stets zu den Geisteswissenschaften gezählt wurde, dass aber gerade C.G. Jung den naturwissenschaftlichen Charakter seiner Ideen betont hat und dass eben dadurch eine Angliederung der Psychologie des Unbewussten an die Naturwissenschaften durch seine Arbeiten angebahnt wurde. Es ist meine Meinung, dass dieser Fortschritt durch das praktische Verhalten der Leitung des C.G. Jung-Institutes ernstlich gefährdet ist."

Weiter kritisiert er das „allgemeine geistige Niveau der psychotherapeutischen Praxis„ an diesem Institut. Es bestehe

"die grösste Gefahr des Herabsinkens dieser Praxis zu einem gänzlich unwissenschaftlichen Massenbetrieb, der beherrscht ist durch das formal-arithmetische Prinzip (mit pekuniärem Hintergrund) in der zu Verfügung stehenden Zeit möglichst viele Patienten mit dem kleinsten Aufwand an Denken zu bewältigen, bezw. zu ‚erledigen’."

Schon vor der Abfassung der Briefe an das Curatorium des C.G. Jung-Institutes spart Pauli auch nicht mit direkter Kritik an Jung. Er schreibt ihm im Mai 1953 im Zusammenhang mit einem Einstein-Traum (vgl. Wolfgang Pauli and Parapsychology), der von einem tieferen Wirklichkeitszusammenhang hinter der Quantenmechanik spricht, den er mit der gesuchten Synthese von Physik und Tiefenpsychologie verbindet:

"[Es] lässt sich nicht leugnen, dass diese [analytische Psychologie; RFR] wie ein illegitimes Kind des Geistes ausserhalb der allgemein anerkannten akademischen Welt ein esoterisches Sonderdasein führt".

Kurz davor (Feb. 1953) macht er Jung einen weiteren Vorwurf:

„Solange man Quaternitäten fern vom Menschen ‘im Himmel’ aufhängt ... , werden keine Fische gefangen, der Hierosgamos [die Vereinigung der gegengeschlechtlichen archetypischen Gegensätze; RFR] unterbleibt, und das psychophysische Problem bleibt ungelöst."

In einem Brief an Fierz kommt er im Oktober desselben Jahres (1953) auf diese „Quaternitäten im Himmel„ zurück und umschreibt den Tatbestand etwas genauer. Er kritisiert mit diesem Ausdruck eine neuplatonische Tendenz (s. dazu unten) in Jungs damaliger Veröffentlichung Antwort auf Hiob, in der dieser auch auf das Dogma der assumptio Mariae eingeht. Er protestiere damit „gegen die Himmelfahrt der Königin".

 

 

3. Die neuplatonische und die hermetische Richtung der Alchemie

Doch worin besteht der tiefere Grund für die Missstände, die Wolfgang Pauli einige Jahre nach der Gründung des C.G. Jung-Institutes so heftig bemängelte? Wir wollen hier einmal seine Kritik am Massenbetrieb mit dem von ihm vermuteten "pekuniären Hintergrund" beiseite lassen. Da diese letztlich auf einem allzumenschlichen Streben beruhen, das offensichtlich auch die hehren Ziele der Tiefenpsychologie nicht aus der Welt schaffen kann, beschränken wir uns auf Paulis heute noch viel berechtigteren Vorwurf, dass die einst naturwissenschaftlich konzipierte Tiefenpsychologie C.G. Jungs in die Esoterik abdrifte, "Quaternitäten fern vom Menschen im Himmel aufhänge" und daher das psychophysische Problem nicht lösen könne.

Um die tieferen Hintergründe dieser Entwicklung ausloten zu können, müssen wir uns hier kurz mit den zentralen Ideen der Alchemie beschäftigen, die ihrerseits auf jenen des Neuplatonismus einerseits, der hermetischen Philosophie andererseits beruhen.

Eines der wesentlichsten Anliegen der Alchemie war die innere Transformation und "Transmutation" des Unedlen in das Edle und Wertvolle. Die vielzitierte Wandlung des Bleis in Gold ist dabei symbolisch zu verstehen. Sie meint - vor allem bei Paracelsus - eine innere Prozedur, in der aus Elementen des physischen Körpers durch "Veredelung" ein "Lebenselixier" geschaffen werden soll, das einerseits zu Gesundheit und langem diesseitigen Leben, andererseits jedoch auch zu einem individuellen Leben im Jenseits verhelfen soll. Dieses Lebenselixier stellte sich Paracelsus als eine Essenz vor, die durch einen Verfeinerungsprozess aus dem grobstofflichen Körper geschaffen werden soll. Damit verwandt ist das Bestreben, aus dem grobstofflichen Körper einen "Hauchkörper" (subtle body) zu erschaffen, der wieder der Gesundheit und einem langen diesseitigen Leben, aber auch der Unsterblichkeit im Jenseits dienen soll.

Sowohl in der hermetischen Philosophie des 1. bis 4. Jahrhunderts als auch im Neuplatonismus des 3. bis 6. spielt diese Idee der Verfeinerung von etwas Materiellem in etwas Geistiges oder eben Hauchkörperartiges eine grosse Rolle. Die Alchemie sog diese Ideen daher in sich auf und führte ihre Wurzeln einerseits auf die Schriften des Begründers der Hermetik, auf den aus Ägypten stammenden Hermes Trismegistos zurück, andererseits aber auch auf den griechischen Neuplatonismus des Plotin.

Kurze Zeit vor der Gründung des C.G. Jung-Institutes begann Pauli an jenem Manuskript zu arbeiten, das er im Jahr 1952 unter dem Titel Der Einfluss archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler zusammen mit C.G. Jungs Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge in der Schrift Naturerklärung und Psyche publizierte. Um die Position Keplers zu verstehen, musste er sich mit der Gegenposition der Alchemie beschäftigen. Dabei fiel ihm auf, dass in dieser zwei grundsätzlich verschiedenen Strömungen herrschten. Die eine berief sich auf den Neuplatonismus, die andere auf die hermetische Philosophie. Letzerer waren vor allem Paracelsus (um 1493-1541) und der späte Epigone Robert Fludd (1574-1637) verpflichtet. Da dieser mit Kepler (1571-1630) in eine ausgedehnte Polemik verwickelt war, hat sich Pauli mit ihm ganz speziell beschäftigt. Wir werden auf diesen hermetischen Alchemisten und Rosenkreuzer daher unten immer wieder zurückkommen.

Einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen den beiden Philosophien besteht in ihrem Verhältnis zur Materie. Während die "vergeistigenden Philosophen" (Pauli) des Platonismus und Neuplatonismus die Materie grundsätzlich als etwas Negatives und Böses betrachten, als die Schlange, der sie "den Kopf zertreten" wollen, zeigt sich in der ursprünglich ägyptischen Hermetik eine positive Bewertung derselben. Pauli meint daher:

"Bei Fludd habe ich wohltuend das Fehlen dieser unangenehmen Tendenz gespürt. Sein Ziel ist die Coniunctio von licht und dunkel: nicht die Vergeistigung der Materie, sondern das ‚Sonnenkind' in der Mitte ist das Ziel. Das ist Alchemie im besten Sinne."

In einem Brief an Marie-Louise von Franz beschreibt er im Jahr 1953 die Parallelen und Unterschiede in einer Übersicht:

 

Platonisch

Hermetisch

Die Dinge werden von Gott emaniert

Ein Blitz fährt von oben in die prima materia

Die Seele hat ‚Melancholia', nämlich Heimweh nach der himmlichen Heimat

Erste Stufe: nigredo

Sie steigt langsam auf in Kontemplation - durch die verschiedenen Sphären

Der artifex steigt in den Stoff hinunter

Dann aber: aurora consurgens

Ende: amor coelestis führt schliesslich zu ‚coincidentia oppositorum'

Ende: unio mystica mit der Gottheit

‚Kuss Gottes' (Kabbala) wird gerne zitiert von Platonikern

chymische Hochzeit

Lapis = filius philosophorum

 

Diese Übersicht weist weitere Differenzen aus. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem neuplatonischen und dem hermetischen Prozess besteht darin, dass die "vergeistigenden Philosophen" den Prozess mit ein Aufstieg zu Gott beziehungsweise dem All-Einen beginnen, die Hermetiker jedoch mit einem Abstieg in die Materie. Auch darin zeigt sich, dass die Hermetik diese weit positiver beurteilt, als der Neuplatonismus.

 

 

4. Die Komplementaritätsidee der Quantenphysik und die hermetische Alchemie

Die Idee der Gleichwertigkeit der Materie mit dem geistigen Prinzip und vor allem jene des Abstiegs in die Materie scheinen nun bei Pauli ein gewaltiges Aha-Erlebnis ausgelöst zu haben. Er kommt in diversen Briefen geradezu ins Schwärmen über diesen hermetisch-alchemistischen Beginn des Opus. Im oben erwähnten Brief an Marie-Louise von Franz meint er:

"Als das Bedeutende an der Alchemie erscheint mir ihr in einer hinsichtlich des Gegensatzpaares physisch-psychisch neutralen Sprache ausgedrücktes Einheitserlebnis, das auch die emotionale Sphäre miteinschliesst und daher zugleich ein numinos-religiöses Erlebnis ist. In religiöser Sprache ausgedrückt kann man sagen, dass der Alchemisten Weg zum ‚Einen' (oder Gott) mit einem Abstieg in die Körperwelt beginnt, daher auch diese Körperwelt letzten Endes zum religiösen ‚Ziel' führt."

Oder in einem Brief an C.A. Meier :

"Die Aufspaltung der Welt in ein helles und ein dunkles Prinzip fällt ... bei Fludd keineswegs zusammen mit der Aufspaltung in Materie und Psyche. Die Materie hat bei ihm auch Teil am lichten Prinzip und die Seele des Menschen auch am dunklen Prinzip. Die polare Realität Fludds ist stets in einem Zwischenreich (zwischen ‚physisch' und ‚psychisch' in unserem Sinne), das durch nicht direkt von den Sinnen wahrnehmbare materielle Bewegungen, die zugleich auch Veränderungen ‚objektiv-psychischer' Art sind, beschrieben wird."

Die obigen Briefzitate waren an Diskussionspartner gerichtet, die nicht zu Paulis Physikerkollegenkreis gehörten. Man könnte daher, wie Karl von Meyenn, der Herausgeber des Wissenschaftlichen Briefwechsels Wolfgang Paulis, die Meinung vertreten, dass die Ideen dieser Briefe sich mit "noch unausgereiften psychologischen und erkenntnistheoretischen Fragen" beschäftigten, die Pauli später wieder verworfen haben könnte. V. Meyenn meint weiter, auch Pauli habe schon auf den "schwebenden Charakter von Äusserungen in Briefen" hingewiesen, "auf die man nicht festgenagelt werden will...", im Gegensatz zu einer endgültigen und mehr definitiven Fassung einer Publikation.

Doch dürfte dieses Argument nicht für die unten folgenden Gedanken gelten. Nach der Publikation des Kepler-Artikels, den Pauli offensichtlich auch dem Physiker C.F. v. Weizsäcker zusandt hatte, dankte ihm dieser im Jahr 1953 und schrieb, dass er auf die dort aufgeworfenen Fragen keine Antworten wisse. Pauli bemühte sich daher, seine Ideen in der Form einer kleinen Abhandlung mit dem Titel Die Alchemie als nicht geglückter Versuch eines psychophysischen Monismus. Das Problem der Einheit des Seins zusammenzufassen. Wir können daher mit grosser Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es sich dabei um endgültige und ausgereifte Ideen handelt. Pauli bekräftigt in diesem Brief nicht nur seine Ansichten, sonder geht noch darüber hinaus. Er schreibt: 

"Die neuplatonisch-christliche Tendenz, die Materie als unerwünscht abzudrängen, war von vornherein von Gegenströmungen begleitet, welche eine symmetrische Behandlungsweise des Gegensatzpaares Geist-Materie angestrebt haben. In der älteren Antike war dies Aristoteles ... und die Peripatetiker sowie auch die Stoa. In der späteren Antike die Gnostiker und die Alchemie. Letztere setzte sich bis in 17. Jahrhundert als materiefreundliche Unterströmung innerhalb des Christentums fort, und gegenüber Kepler begegnen wir deren späteren Nachzügler Fludd.

Durch Bohr an das antinomische Denken gewöhnt, bin ich entschieden für die symmetrische Auffassung des Gegensatzpaares Geist-Materie und war von Fludds Bildern gefesselt, die in der Mitte das ‚Sonnenkind' entstehen lassen. Inzwischen war C.G. Jung als Kompensation der zu starken Vergeistigung seiner Psychologie ebenfalls auf die Alchemie gestossen, das hiess aber sowohl auf die Materie als auch auf die Naturwissenschaften. Ob nun später aus dieser Kollision von Psychologie und Physik durch eine wahre ‚Coniunctio' ein Sonnenkind entstehen wird, das wird erst die Zukunft zeigen.

Die Alchemisten knüpfen einerseits an den Timaeus, andrerseits an Aristoteles an ... Sie verwerfen aber den Neuplatonismus; die Materie ist nicht böse, sondern indifferent und in ihr ist ein Geist verborgen (Hermes Trismegistos).

Ich kann jetzt natürlich nicht auf die ganze, komplizierte und oft abstruse Gedankenwelt und ‚Philosophie' (bzw. ‚Kunst') der Alchemie eingehen. Als das Bedeutungsvolle an ihr erscheint mir der Versuch, eine doppelsinnige psycho-physische Einheitssprache zu schaffen, die auf der Überzeugung der Identität innerer und äusserer Vorgänge beruht. Dafür seien als Beispiele erwähnt: Seelische Wandlung des Laboranten (‚Artisten') = chemische Wandlung in der Retorte, Wandlung in der Messe = Entstehen des ‚Lapis philosophorum' (Gold = Sonne aus dem ‚unedlen' Blei = Saturn). Parallele: Lapis = Christus: Gott Hermes oder Merkur = Quecksilber, ‚Lösung' eines Problems = physikalische ‚Lösung'. ‚Geist' = jede leicht verdampfende Flüssigkeit, ‚Feuergeist' = Alkohol, et., etc.

Die Sache erscheint uns heute oft recht läppisch, und die Identifizierung der inneren (psychischen) mit den äusseren (chemischen) Vorgängen erfolgte sehr zum Schaden der Chemie. In der Tat waren ja die wirklichen chemischen Kenntnisse der Alchemisten äusserst geringe. Herr Jung behauptet aber, dass die Alchemisten eingehende Kenntnisse über unbewusste psychische Vorgänge hatten, und er hat sich eingehend mit der psychologischen Bedeutung der chymischen Hochzeit = Coniunctio von sol und luna beschäftigt, die bei Fludd eben jener Entstehung des Sonnenkindes in der Mitte entspricht".

Als erstes fällt auf, dass Pauli nun die neuplatonische Philosophie verwirft und nur noch die Hermetik als Grundlage der Alchemie gelten lässt. Zu diesem Schluss kommt er aufgrund des symmetrischen Denkens der Kopenhagener Deutung (Bohr) der Quantenmechanik, das heisst aufgrund der Komplementarität. Wie wir sehen werden, beinhaltet sie die Tatsache, dass wir die Materie an sich nicht beobachten können, sondern abhängig vom verwendeten Messinstrument nur entweder deren Wellen- oder deren Korpuskelaspekt. So wie derart eine Symmetrie zwischen den zwei Anschauungen geschaffen wird, ist für Pauli die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Geist und Materie die notwendige Voraussetzung für die so genannte "chymische Hochzeit". Erst mit Hilfe dieser Annahme scheint ihm die geschlechtliche Vereinigung der beiden Gegensätze möglich. Aber auch deren Produkt, das infans solaris oder Sonnenkind, das trotz seines Namens nicht etwa in den himmlischen Sphären wohnt, sondern in einem "Zwischenreich" zwischen Himmel und Erde, zwischen den gleichberechtigten Prinzipien des Männlichen und des Weiblichen, kann nur geboren werden, wenn die Symmetrie zwischen Geist und Materie vorausgesetzt wird.

Wir verstehen nun, warum Pauli die neuplatonische Tendenz C.G. Jungs und der Jungianer derart heftig kritisiert. Im Gegensatz zur neuplatonischen Philosophie, in der nichts Neues herauskommt, sieht Pauli das Ziel der hermetischen Alchemie, die Herstellung des infans solaris im "Zwischenreich", als eine höhere Stufe der Entwicklung an, so dass dieser Prozess nicht wie bei den Neuplatonikern im ewig gleichen Kreis rotiert, sondern - symbolisch gesehen - die Form einer Spirale beschreibt. Wie viele weitere Briefstellen zeigen, ahnt Pauli, dass dieses "Kind" der hermetischen coniunctio implizite eine moderne Lösung des psychophysischen Problems enthält. Wir müssen uns daher unten fragen, wie das infans solaris mit dem von Pauli geforderten neuen psychophysischen Monismus zusammenhängen könnte.

Wir werden sehen, dass die alchemistische Geburt des infans solaris als Folge der "chymischen Hochzeit", das heisst der so genannten coniunctio, der geschlechtlichen Vereinigung der männlichen und der weiblichen Gottheit in der hermetischen Alchemie, in einer neuen Deutung, die die Entdeckungen der modernen Physik mit einbezieht, einem akausalen Wandlungsphänomen in einer mit physikalischen Mitteln nicht wahrnehmbaren psychophysischen Einheitswelt entspricht.

 

 

5. Das Scheitern der Alchemie am psychophysischen Problem und die unsichtbare psychophysische Realität

Pauli fährt in seinem Brief an Weizsäcker fort:

"Ich habe für den ‚Hausgebrauch' daran noch weitere Überlegungen geknüpft, die mich nun auch zur tieferen Frage der Übereinstimmung von ‚innen' und ‚aussen' (z.B. das Passen der Mathematik auf die Physik, das psychophysische Problem) führen sollen, die Sie laut Ihrem Brief mit Recht aus meiner Arbeit über Kepler herausgehört haben. Es ist eben das Fortbestehen dieser Frage, die mir aus der Polemik Kepler-Fludd so deutlich geworden ist. Jede Erweiterung des Bewusstseins scheint mir nämlich auch mit dem Verlust anderer, früher schon deutlicher bewussten (oder wenigsten geahnten) Stücke erkauft, die später die Tendenz haben, als ‚revenents' zurückzukehren.

...

Ich vermute ..., dass der alchemistische Versuch einer psychophysischen Einheitssprache nur deshalb gescheitert ist, weil diese auf eine sichtbare, konkrete Realität bezogen wurde. Heute haben wir aber in der Physik eine unsichtbare Realität (der atomaren Objekte), in die der ‚Beobachter' mit einer gewissen Freiheit eingreift ... wir haben in der Psychologie des Unbewussten Vorgänge, die nicht immer eindeutig einem bestimmten Subjekt zugeschrieben werden können, die sich allerdings vorläufig einer mathematischen Erfassung entziehen.

Der Versuch eines psychophysischen Monismus erscheint mir nun wesentlich aussichtsreicher, wenn die zugehörige (noch nicht bekannte, in Hinsicht auf das Gegensatzpaar ‚psychisch-physisch' neutrale) Einheitssprache auf eine tiefere unsichtbare Realität bezogen würde."

 

Während Pauli im Brief an Marie-Louise von Franz vom 19.10.52 mit ihr noch darin übereinstimmt, "dass der alchemistische Prozess schon das Ganze ist", relativiert er nun seine Ansicht und sagt, dass die Alchemie zwar versucht habe, eine doppelsinnige psycho-physische Einheitssprache zu schaffen, dass dieser Versuch jedoch gescheitert sei, weil sie auf die "sichtbare, konkrete Realität" bezogen worden sei. Sowohl die Physik als auch die Tiefenpsychologie C.G. Jungs hätten jedoch eine "tiefere unsichtbare Realität" entdeckt, weshalb wir heute weit eher in der Lage seien, einen neuen Versuch eines psychophysischen Monismus zu wagen. Dazu sei es jedoch nötig, zur Ansicht der hermetischen Alchemisten, das heisst, zur Überzeugung der Identität innerer und äusserer Vorgänge zurückzukehren. Dieser Prozess beginne mit der Schaffung einer "in Hinsicht auf das Gegensatzpaar ‚psychisch-physisch' neutralen Einheitssprache", die sich auf eben diese unsichtbare Realität beziehen müsse.

Wir sehen aus diesen Zeilen, dass Pauli die Begriffe "unsichtbare Realität" und "psychophysische Einheitswelt" synonym gebraucht, weshalb wir für diese im folgenden den Begriff der "unsichtbaren psychophysischen Realität" verwenden werden. Zudem geht aus diesem Brief an von Weizsäcker eindeutig hervor, dass er der Überzeugung war, dass hinter der materiellen Welt der Physik eine weitere kommen muss, die Psyche und Physis vereinigt oder transzendiert.

Diese Ansicht des Nobelpreisträgers der Physik, die den wenigsten heutigen Physikern behagen dürfte, wird durch die folgenden Zitate noch untermauert. Im Brief [1291] an Marie- Louise von Franz meint er:

"Physis und Psyche treffen wieder zusammen, aber diesmal, scheint es, in der unsichtbaren Realität (Atom, kollektives Unbewusstes)."

Im Brief [1921] an Kröner aus dem Jahr 1954, der uns später noch beschäftigen wird, sagt er dann ganz klar :

"'Materie' als metaphysisches (transzendentes, unanschauliches) Prinzip ist komplementär zum geistigen (‚pneumatischen', ebenfalls metaphysischen) Gott. Der ... Chinese rechnet mit komplementären Gegensatzpaaren, deren Einheit bewusstseins-transzendent ist, in die der Mensch als Mitte hineingestellt ist."

Pauli übernimmt damit den Standpunkt C.G. Jungs im Brief [1662] vom 24.10.53, der folgendermassen lautet:

"Psyche wie Materie sind beide als ‚matrix' an und für sich ein X, d.h. eine transzendentale Unbekannte, daher voneinander begrifflich nicht zu scheiden, also praktisch identisch und nur sekundär verschieden als verschiedene Aspekte des Seins."

Jung meint dann weiter:

"Zu der Substanz des Psychischen gehören u.a. die psychoiden [RFR: synonym zu psychophysischen] Archetypen. Dem Archetypus eignet empirisch die Eigenschaft, sich nicht nur psychisch-subjektiv, sondern auch physisch-objektiv zu manifestieren, d.h. er kann eventuell als psychische inneres und zugleich als physisches äusseres Ereignis nachgewiesen werden. Ich betrachte dieses Phänomen als ein Zeichen für die Identität der physischen und psychischen Materie."

Was er als "psychische Materie" ansieht, lässt er in diesem Brief allerdings offen. Später definiert er in diesem Zusammenhang eine "psychische Relativität der Masse", einen Begriff, dessen Inhalt Pauli aus der Sicht der Naturwissenschaft nicht ergründen kann.

Wir werden später sehen, dass Pauli diese unsichtbare psychophysische Realität zwar als bewusstseins-transzendent ansah, dass er uns jedoch einen Weg gewiesen hat, der es uns ermöglicht, die Existenz dieser Welt empirisch nachzuweisen. Diese Ansicht des die Physis erforschenden Naturwissenschaftlers unterscheidet sich ganz wesentlich von jener des "Psychikers" C.G. Jung, der annahm, dass die psychoide oder psychophysische Welt für immer transzendent bleiben wird, da sie zum "an sich nicht Feststellbaren" gehöre. Dieser Fehlschluss beruht darauf, dass Jung mit der Entdeckung des Synchronizitätsphänomens zwar die äussere Physis in seine Theorie einbezog - womit er zwei sich widersprechende Theorien geschaffen hatte (s.u. ) -, die individuelle Physis, den menschlichen Körper, jedoch in seiner Tiefenpsychologie nicht mit berücksichtigt hatte.

Meine Ausführungen werden in Erweiterung der Ansicht Paulis auch zeigen, dass nicht nur der empirische Nachweis dieser Welt möglich ist, sondern dass in einem introspektiven und körperbezogenen Prozess auch Schöpfungsakte aus dieser unsichtbaren psychophysischen Realität heraus beobachtet werden können.


Vgl. auch die weiteren Artikel in

http://www.psychovision.ch/synw/synfrsch.htm  

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