Remo F. Roth

Dr. oec. publ., Ph.D.

dipl. analyt. Psychologe (M.-L. v. Franz)


email

HomePage

WebSite

English HomePage


© copyright 2000 by Pro Litteris, Zurich, Switzerland. All rights reserved

Urheberrechtsverletzungen werden international verfolgt. Genehmigungen zur Publikation von Zitaten durch den Autor über email


revised English version

Der Archetypus der mystischen Hochzeit in der Alchemie und im Unbewussten des heutigen westlichen Menschen

(Teil 1)


Inhalt:

Teil 1:

1. Einleitung

2. Der Archetypus der coniunctio in der Alchemie

3. Das alchemistische Rosarium Philosophorum 

Teil 2:

4. Die unio corporalis des Gerardus Dorneus

++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++++

5. Die zweifache Erlösung der Weltseele aus der Materie

5.1 Das Siegel Salomos als unerlöste und der denarius (Zehnzahl) als erlöste Weltseele

5.2 Die erlöste Weltseele als die rotatio des rotundums (Rotation des Runden) und die hermetische Alchemie

5.3 Die rotatio des rotundums im Unbewussten Wolfgang Paulis und C.G. Jungs und die zukünftige unio corporalis

5.4 Das Erlebnis der Weltseele (anima mundi) im Mittelalter

5.5 Die Geburt der Naturwissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert

5.6 Die Zerstörung der Einheit der Weltseele und deren Reduktion auf die Prinzipien der physikalischen Energie und der Kraft

5.7 Die Projektion der Weltseele auf die Infinitesimalrechnung

5.8 Die Folgen der ersten Erlösung der Weltseele

5.9 Das Problem der Vervollständigung des alchemistischen Opus: Die zweite Erlösung der Weltseele

6. Der denarius (Zehnzahl) als Prozess und Ziel des Opus

6.1 Prozess und Ziel im mikrokosmischen und im makrokosmischen Opus

6.2 Eine allgemeine Beschreibung des alchemistischen Opus

6.3 Physik und Jung'sche Tiefenpsychologie als erste coniunctio in der unio mentalis

6.4 Die unio corporalis und die zweite coniunctio in einer modernen Terminologie

6.5 Das Siegel Salomos, die Quadratur des Kreises, die Quintessenz und die Quaternität

6.6 Die quaternäre Struktur des Bewusstseins in der Typologie C.G. Jungs und das komplementäre Eros-Bewusstsein

7. Der Archetypus der coniunctio im heutigen westlichen Menschen 

8. Der Obelisk und die Inkarnation des unus mundus 

9. Das UFO und das Lebenselixier der unio corporalis


 

Der Archetypus der mystischen Hochzeit in der Alchemie und im Unbewussten des heutigen westlichen Menschen

Remo F. Roth, Horgen-Zürich

(Teil 1)

 

1. Einleitung

Die geneigte Leserin und erst recht der hoffentlich nicht allzu skeptische Leser werden mit den hier folgenden Ausführungen gefordert sein. Es würde mich nicht wundern, wenn sie oder er bald einmal die Lektüre mit einer affektiven Reaktion beenden würde. Denn der Archetypus der alchemistischen mystischen Hochzeit ist eng mit seinem triebhaften Spiegelbild, der gegengeschlechtlichen Sexualität verbunden. Und auch im Zeitalter des sexuellen Libertinismus lösen wirklich tiefgreifende neue Ideen über diesen Grundtrieb der Menschheit aus begreiflichen Gründen immer noch stärkste Emotionen aus.

Als Mann, der seine Wurzeln im bäuerlichen Milieu hat, war mir schon seit dem Beginn meiner Studienzeit am Zürcher C.G. Jung-Institut vor 25 Jahren aufgefallen, wie das Problem der gegengeschlechtlichen Sexualität in diesen Kreisen gemieden und ausgeklammert, ja geradezu totgeschwiegen wurde. Es war für mich daher äußerst erfrischend, in meiner persönlichen Beziehung zu Marie-Louise von Franz zu erfahren, daß sie diesbezüglich die ganz große Ausnahme bildete. Wenn wir über das Thema der coniunctio, der mystischen Hochzeit der Alchemisten sprachen, erlebte ich immer wieder, wie sie die triebhafte und allzu menschliche Seite der Sexualität mit deren tiefsten religiösen Aspekten verbinden und mir so auch den Weg zu einem tieferen Verständnis des Tantrismus - des mystischen Wegs des Buddhismus und des Hinduismus, in welchen die Sexualität in die Spiritualität einbezogen ist - bahnen konnte.

Die Beschäftigung mit dieser östlichen Art der Spiritualität ist heute ja in aller Munde. Da bekanntlich der Prophet im eigenen Land - in diesem Fall in Europa - nichts gilt, wird allerdings übersehen, daß das Motiv der coniunctio eines der zentralsten Themen der europäischen Alchemie darstellt. Im Gegensatz zum Tantrismus, in dem in einer für die Psyche des Europäers unter Umständen gefährlichen Art und Weise die Kundalini am Steißbein erweckt und deren Energie in den Kopf hinauf geleitet wird, beginnt das alchemistische Opus mit einem Abstieg. In stercore invenitur (im Dreck wird es gefunden) war ein wichtiges Motto dieser mittelalterlichen Mystik. Eben zu diesem vermeintlichen Dreck müßen wir heute im Laufe des Individuationsprozesses vorerst zurückkehren, statt in einer verblödenden Art und Weise der rein konsumorientierten Nachäffung der tief religiösen östlichen Mystik im so genannten Neo-Tantrismus zu verfallen.

Im folgenden soll daher zuerst auf das Motiv der mystischen Hochzeit (coniunctio) in der Alchemie eingegangen werden, um anschließend in einem zweiten Teil an einem Beispiel zu zeigen, wie dieser Archetypus aus dem Unbewußten des heutigen westlichen Menschen wieder auftaucht, und wie er als wesentlicher Aspekt eines spirituell verstandenen Individuationsprozesses in das moderne Bewußtsein integriert werden kann. Es wird sich dabei zeigen, daß damit eine Revolution des Weltbildes verbunden ist, deren Folgen wir heute noch kaum abschätzen können. Dieser Ansicht war zu meiner großen Freude auch Marie-Louise von Franz, die in einer der letzten gedruckten Äußerungen vor ihrem Tod an die Adresse der modernen Wissenschaft gewandt mahnte, daß "die von Carl Gustav Jung vorgeschlagene Sicht der Existenz eine totale Umstellung des Bewußtseins und unserer ganzen Weltsicht impliziert". Daß von dieser Revolution nicht nur die Naturwissenschaft, sondern auch oder vor allem die Tiefenpsychologie und die Medizin betroffen sein werden, werden die hier folgenden Ausführungen zeigen. Diese verstehe ich daher als eine empirische Bestätigung der Hypothese meiner Lehrerin.

  

2. Der Archetypus der coniunctio in der Alchemie

In seinem Artikel Die Psychologie der Übertragung [Gesammelte Werke (GW) 16, § 353ff.] hat C.G. Jung den alchemistischen Text Rosarium Philosophorum, der im Jahr 1550 anonym gedruckt wurde, gedeutet. Jungs Anliegen bestand darin, mit Hilfe dieses Textes die Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung im therapeutischen Prozeß verständlich zu machen. Gleichzeitig betonte er, daß der Begriff "Übertragung die Verdeutschung von Projektion ist". Im Zusammenhang mit dem Motiv der Gegensatzvereinigung können wir daher den Begriff auch ganz allgemein auf die Problematik der Projektion in der gegengeschlechtlichen Sexualität und deren archetypischen Hintergrund anwenden, um den alchemistischen Text in diesem Sinne zu deuten.

Wie Jung ausführt [GW 9/II, § 313; GW 16, § 534], dürfte die biologische Sexualität des Menschen einen Sonderfall der Urnatur des Lebens und des Kosmos überhaupt darstellen. Wenn man daher versucht, hinter den Freudschen Konkretismus zu gelangen und folglich die ganze coniunctio-Phänomenologie auf einer tieferen Ebene begreifen will, erkennt man - wie ich im folgenden zu zeigen versuchen werde - im Rosarium die bildhafte Vorlage eines Schöpfungsmythos, in dem im Gegensatz zu den meisten archaischen Mythen der Mensch als verantwortlich handelnder Mitgestalter einbezogen ist. Da der Alchemist in Kategorien dachte, die wir heute mit dem Begriff mikrokosmisch-makrokosmische Synchronizität beschreiben würden, kann - wie wir sehen werden - dieser Schöpfungsmythos einerseits auf der mikrokosmischen Ebene gedeutet und derart auf die Behandlung körperlicher Krankheiten angewandt werden, andererseits auf der makrokosmischen Ebene auf die Diagnose und "Behandlung" der immer stärker spürbar werdenden kollektiven Krankheit unserer westlichen Kultur.

Wenn wir also eine Deutung des alchemistischen Textes und der Visualisierung eines heutigen Mannes versuchen, werden wir diesen Hintergrund im Auge behalten müßen. Da im buddhistischen und hinduistischen Tantrismus ähnliche Vorstellungen herrschen, die aber viel direkter auf den menschlichen Körper und vor allem auf dessen vegetatives Nervensystem bezogen sind, dient die Deutung des Rosariums zugleich auch einem tieferen Verständnis dieser östlichen Mystik und der Beantwortung der Frage, ob, wie und mit welchen Abweichungen deren Theorien und Techniken in den Individuationsprozeß des Europäers mit seiner mehrtausendjährigen christlich-jüdischen Geschichte und damit mit einem vom östlichen völlig verschiedenen Unbewußten einbezogen werden könnte (vgl. dazu auch Bilder aus dem Bauch - Tantrismus und archetypische Psychosomatik).

   

3. Das alchemistische Rosarium Philosophorum

Das Rosarium Philosophorum beginnt mit der Darstellung des Ortes des Schöpfungsmythos. Es ist der im nebenstehenden Bild dargestellte Brunnen des Mercurius, des zentralen Archetypus der Alchemie. Mercurius, ein ausgesprochen ambivalentes Wesen, symbolisiert in personifizierter Form die Zweiheit von physisch-psychischer und geistig-psychischer Energie. Da in diesem Brunnen eine Wandlung stattfinden soll, zeigt uns die Symbolik hier schon, daß es sich bei diesem Schöpfungsmythos um einen energetischen Transformationsvorgang handelt. Dieser Merkurbrunnen, in dem die geschlechtliche Vereinigung des Rex und der Regina, der letztlich göttlichen Gestalten des Königs und der Königin, geschehen soll, wird zugleich dem weiblichen Uterus gleichgesetzt. In diesem sollen die feindlichen Gegensätze des Weiblich-Göttlichen und des Männlich-Göttlichen, der Materie und des Geistes, vereinigt werden.  

Zu diesem Paar gesellt sich, im Gegensatz zur biologischen Sexualität, die Taube des Heiligen Geistes (vgl. nebenstehende Abb.). Dieser besitzt aber weit mehr die Eigenschaften der objektiven Psyche, wie Jung sie versteht, das heißt, die Taube bedeutet als Vogel das oben erwähnte merkurialische Doppelwesen, das dank seiner Eigenschaft der Verbindung zwischen Geist (Flugfähigkeit) und Körper (oder mit der Materie ganz allgemein) mit beiden eine Beziehung haben kann. Dieser Merkur ist gleich in zweifacher Weise mit der Zahl 6 verbunden, einerseits durch den sechseckigen Stern, der mit ihm im Himmel schwebt, andererseits durch die drei Blumen, die ihn mit dem königlichen Paar verbinden und so angeordnet sind, daß sie ebenfalls ein Sechseck bilden.

Wie ich in meinen Gottsuchern [Frankfurt, 1992] gezeigt habe, gehört diese Sechsheit, vor allem in ihrer Ausprägung als Doppel-Triade, zur Grundstruktur des Kosmos und dürfte den unus mundus des Alchemisten Gerardus Dorneus, die potentielle, Geist, Psyche und Materie transzendierende Welt vor der Schöpfung darstellen (vgl. dazu unten).

Mit Hilfe des sexuellen Aktes im Wasser des Merkurbrunnens soll nun ein Drittes geschaffen werden. Dieses Dritte besitzt viele verschiedene alchemistische Namen: Der Stein (lapis), das philosophische Gold, der filius Philosophorum, der infans solaris, die rote Tinktur, das Sonnen-Mond-Kind, usw. Man muß sich jedoch vor der Vorstellung hüten, daß dieses Kind der gegengeschlechtlichen Vereinigung nun wie im biologischen Prozeß die Eigenschaften seiner Eltern weiter trägt. Es ist im Gegensatz dazu das tertium non datur, das ausgeschlossene Dritte, das ein ganz wesentliches Merkmal des Kind-Archetypus darstellt. Es ist ein "Drittes irrationaler Natur, welches dem Bewußtsein unerwartet und unbegreiflich ist". Es stellt "eine Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen" und "die Erscheinung eines noch unerkannten und neuen Inhalts" dar.

Der aufmerksamen Leserin wird nicht entgangen sein, daß dieses Dritte eigentlich ein Viertes darstellt, sofern man die coniunctio als einen Prozeß auffaßt, der sich zwischen der Königin, dem König und dem ambivalenten Mercurius abspielt. Sie beschreibt daher eigentlich die Herstellung des Vierten, ein Problem, das die Alchemie im berühmten Axiom der Maria Prophetissa - "Aus Eins wird Zwei, aus Zwei wird Drei, und das Eine des Dritten ist das Vierte; so werden die zwei eins." - äußerst intensiv beschäftigte. In meiner Deutung [vgl. dazu Die Gottsucher] heißt dies, daß das Vierte der Zahl 6 beziehungsweise einer Doppel-Dreiheit und damit letztlich auch dem Symbol des Kreises entspricht, und nicht etwa, wie die meisten Jungianer annehmen, der Zahl 4 und dem Quadrat. Erst dieser Einbezug des Kreises ermöglicht zudem die Quadratur des Zirkels, die ihrerseits ebenfalls als ein Symbol des alchemistischen Opus und dessen Ziel erwähnt wird.

Da das Kollektivbewußtsein meist jede wahre Neuerung ablehnt, bis sie sich in revolutionären Wirren dennoch durchsetzt, ist das archetypische Kind immer mit der Aussetzung, Verlassenheit, Gefährdung und Verfolgung verbunden. Ist in einem Menschen dieser Archetypus konstelliert, besteht die Gefährdung des öfteren in der Möglichkeit des Ausbruchs einer schweren Krankheit; aber auch viele psychosomatische Störungen können auf diese Unbewußtheit über die Notwendigkeit des Einbezugs des Kindarchetypus in den Individuationsprozeß zurück geführt werden.

Sowohl das archetypische Kind als auch das Ziel des Opus werden auch durch das Symbol des Runden, des rotundums, symbolisiert. Dieses ist der Zahl Sechs aequivalent, da diese durch die Teilung des Kreises mit Hilfe des Zirkels entsteht. Daraus wird das Siegel Salomos abgeleitet, der so genannte Davidstern, der sowohl das Opus als auch dessen Ziel charakterisiert [s. dazu Jung, GW 12, Abb. 160, S. 363(!)]. Gershom Sholem, der berühmte jüdische Mythenforscher, war der Ansicht, dass entgegen der landläufigen Ansicht dieses Symbol nicht typisch jüdisch ist. Tatsächlich findet es sich daher in der Mystik aller fünf Weltreligionen, in der Kabbalah, in der christlichen Mystik (Niklaus von Flües Radbild), im Herz-Chakra des buddhistischen und des hinduistischen Tantrismus, und auch im muslimischen Sufismus. Immer ist es zudem mit dem Herzen, das heisst letztlich mit dem Prinzip des Eros im weitesten Sinn des Wortes (s. dazu unten) verbunden.

Es erstaunt daher nicht, daß die Zahl Sechs nicht nur, wie wir gesehen haben, im zweiten Bild des Rosariums auftaucht, sondern auch in den weiteren Bildern, im ersten Bild beispielsweise auch als sechs Sterne am Merkurbrunnen. Im obigen dritten Bild wird dann sogar dieses Wandlungsgefäß sechseckig.

Diese Symbolik will uns offenbar darauf hin weisen, daß die Zahl 6 ein ganz wesentliches Merkmal dieses Prozesses darstellt. Sie ist sowohl mit der zu wandelnden prima materia (die Gegensätze von König und Königin) als auch mit deren Endprodukt, dem infans solaris, eng verknüpft. Sie charakterisiert aber auch den Merkurbrunnen und sogar den Gott Mercurius, der den zentralen Archetypus der Alchemie darstellt. Da im Rosarium, wie wir sehen werden, der archetypische Hintergrund der Sexualität abgehandelt wird, diese letztere zudem dem sechsten Gebot des Alten Testaments entspricht, ist auch eine Beziehung zu diesem Grundtrieb der Menschheit gegeben. Zugleich zeigt sich hier, daß eine Ablehnung der Symbolik des Vierten als die Zahl 6 letztlich einer Weigerung entspricht, die introvertierte Beschäftigung mit dem Problem der Sexualität in den eigenen Individuationsprozeß einzubeziehen.

König und Königin tauchen also im Bade ein, welcher Vorgang, wie wir gesehen haben, auch als ein Versinken im Uterus gedeutet wird. Das Wasser entspricht dabei der oben schon erwähnten Psyche, die die Alchemisten als halb körperliche und halb seelische Substanz ansahen, die als vinculum amoris, als Band der Liebe, das Männliche mit dem Weiblichen zu vereinigen vermag. Psychologisch gesehen bedeutet diese Symbolik im Fall einer Unbewußtheit über das eigentliche Wesen der coniunctio gemäß Jung die Überschwemmung des Bewußtseins mit der sexuellen Libido, die eine zu große Vergeistigung kompensiert. 

Natürlich erinnert diese Bemerkung sofort an die Situation der 68er-Revolution im Europa des letzten Jahrhunderts und an die moderne Zeit, die in einem hemmungslosen kollektiven Rausch den Eros in seiner archaischen Form der promiskuitiven Sexualität auslebt, um derart die heutige intellektuelle Einseitigkeit (die zukünftigen Generationen ebenso archaisch erscheinen wird) zu kompensieren. Diese Vorstufe des eigentlichen, heute konstellierten und daher in naher Zukunft zu erwartenden Opus, scheint mir jedoch nötig, da nur sie die Erfahrung ermöglicht, daß die konkretistische Variante dieses Schöpfungsmythos schliesslich unbefriedigend und sinnentleert wird, weil sie nicht zum mystischen Erlebnis führt, welches offensichtlich ebenfalls ein Ziel des im Rosarium angedeuteten Prozesses ist.

Es besteht meines Erachtens in der heutigen Zeit jedoch ebenso ein äußerst dringendes Bedürfnis, diese Unbewußtheit über die Überschwemmung mit der sexuellen Libido als Hintergrund des sexuellen Libertinismus zu überwinden. Dies ist der eigentliche Grund, warum ich mich entschlossen habe, die unten folgende sexuelle Visualisierung eines Klienten (mit dessen Zustimmung) zu veröffentlichen. Darin zeigt sich nämlich, daß er - in Sachen promiskuitiver Sexualität keine Unschuld - im Laufe dieses Prozesses die Verantwortung für seine sexuellen Phantasien übernahm und derart in eine neue Bewußtheit in Bezug auf diese hinein wuchs, statt sie unbewußt und konkretisiert auszuleben. Erst diese Haltung ermöglichte es ihm, in die unter meiner Anleitung durchgeführte Visualisierung einzusteigen. Diese zeigte mir zum ersten Mal die Möglichkeit und Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit kollektiv-sexuellen Phantasien sowie die verblüffende Tatsache, daß diese mit einer persönlichen gegengeschlechtlichen Beziehung so gut wie nichts zu tun haben, auch wenn sie vorerst als Projektion auf die Partnerin erscheinen.

Im nächsten Bild des Rosariums folgt nun die eigentliche coniunctio von König und Königin, die in einer für mittelalterliche Augen recht drastischen Art und Weise dargestellt ist. In dem das Bild begleitenden Text wird der Vergleich mit der Paarung von Hund und Hündin gezogen, wodurch der "Hundesohn" erzeugt wird. Gleichzeitig wird dieses Geschehen jedoch als ein Wunder geschildert, in dem das "neue Licht" gezeugt wird, das Sonne und Mond überstrahlen soll. Dieser alles überstrahlende Hundesohn soll dann dem Menschen dazu dienen, "von Anfang an in dieser Welt und in der anderen" zu leben. Gemäß Jung wird derart die "Wiederherstellung des verschwundenen Lichtmenschen" (Anthropos, d.h. Urmensch) geschildert, der vor aller Schöpfung war, womit sich die Zeugung des Hundesohnes als ein Schöpfungsmysterium von kosmischem Ausmaß zu erkennen gibt, das aber entgegen der landläufigen Meinung in stercore, im vermeintlichen Dreck, beginnen soll.

Offensichtlich von der Größe und Unabsehbarkeit dieses kosmischen Mythos überwältigt, gesteht Jung dann in seinem im Jahr 1943 geschriebenen Kommentar ein, daß er nicht wisse, was die hier geschilderte coniunctio und ihr Produkt, der infans solaris bedeuten könnten. Auch zehn Jahre später, im Jahr 1953, schreibt der gut Siebenundsiebzigjährige dem Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli: "Das Problem der coniunctio gehört der Zukunft und übersteigt meine Kräfte". Doch beginnt er, wie ein kurzer Artikel in der Schweizer Wochenzeitung Weltwoche Nr. 1078 vom 9.7.1954 zeigt, in diesen Jahren, sich intensiver mit dem UFO-Phänomen auseinander zu setzen, in dem er vier Jahre später (im Jahr 1957) schließlich "die projizierte, d.h. konkretisierte Symbolik des Individuationsprozesses" vermutet. Ich erwähne diese Zusammenhänge, weil in der unten folgenden Visualisierung eben an dieser Stelle der coniunctio ebenfalls ein UFO auftaucht, welcher Tatbestand darauf hinweist, daß die im alchemistischen Mythos geschilderte Zeugung und Geburt des zukünftigen infans solaris und die heutige UFO-Phänomenologie mit größter Wahrscheinlichkeit zusammen gehören (zur UFO-Problematik s. mein UFO-Netzwerk und darin vor allem The UFO and the Subtle Body).

Daß mit diesem Kind als Resultat der coniunctio etwas ganz anderes als ein Produkt der gegengeschlechtlichen Sexualität gemeint ist, zeigt nun eindeutig die Fortsetzung des Rosariums. Nach der Konzeption tritt ein todähnlicher Zustand ein, den der Text mit folgendem Spruch umschreibt: "Corruptio unius generatio est alterius" (die Zerstörung des einen ist die Erzeugung eines andern). Diese überraschende Folge der königlichen Hochzeit wird daher nun mit der vegetativen Fortpflanzung verglichen, in der das Samenkorn in die Erde versenkt wird, wo es stirbt, um zu neuem Leben zu erwachen. In unserem Zusammenhang wird dieses Detail sehr wichtig, weil es zeigt, daß im alchemistischen Mythos in diesem Moment von der tierisch-menschlichen auf die pflanzliche Ebene gewechselt wird, was offensichtlich heißt, daß nun von einer vegetativen Erneuerung des Lebens die Rede ist. Derart wird auch eine Verbindung zum vegetativen Nervensystem und so zum Chakra-System des Tantrismus hergestellt, da dessen "grobstofflicher" Aspekt (sthula) den vegetativen Plexen (Nervenknoten) des menschlichen Körpers entspricht (vgl. dazu die Gegenüberstellung von Motoyama).

Wie oben schon erwähnt wurde, symbolisiert das alchemistische Rosarium philosophorum einen Prozess, der sowohl im Mikrokosmos, das heisst, im menschlichen Körper, als auch im Makrokosmos, somit im Universum geschehen kann. Eine weitere, für uns gemäss dem naturwissenschaftlichen Weltbild erzogene Menschen schwer verständliche Vorstellung besteht zudem darin, dass der mikrokosmische Prozess unter Umständen auch zu einer Wandlung im Makrokosmos führt, so dass das Opus eines einzigen Menschen die Welt zum Guten verändern kann. Wie ich in meinem Beitrag über Niklaus von Flüe gezeigt habe, dürfte dieser äusserst originelle Schweizer Bauer und Heilige einen derartigen Prozess erlebt und erlitten haben. 

Gemäss der alchemistischen Anschauung wirkt sich aber auch eine makrokosmische Veränderung auf den Mikrokosmos aus. Einen solchen Zusammenhang auf der alchemistischen Grundlage vermutete beispielsweise C.G. Jung in einem Brief vom 12. August 1954 an Wolfgang Pauli zwischen der Atombombe und der immer deutlicher werdenden Spaltungstendenzen im heutigen Menschen, die dessen Individualität und Individuationsdrang unterhöhlen und ihn zum Massenpartikel werden lassen. Die Tatsache, dass immer mehr moderne Menschen unter aggressivsten sexuellen Phantasien leiden, die sie in den Individuationsprozess (oder in eine Krankheit) hineinzwingen wollen, scheint mir anzuzeigen, dass sich auf diesem Weg, vorerst allerdings völlig unbewusst, eine Kompensation zu dieser Vermassung anzubahnen beginnt. In stercore invenitur...

Doch kehren wir zum mittelalterlichen Text zurück. Wie das nächste Bild zeigt, vereinigen sich König und Königin in diesem todähnlichen Zustand zu einem einzigen Körper mit zwei Köpfen. Dieser Hermaphroditus (Hermes-Mercurius vereint mit Aphrodite-Venus), der infolge seiner zwei Köpfe zusammen mit den zwei Armen und zwei Beinen wieder der Zahl 6 - hier in ihrer Eigenschaft als Doppel-Drei - entspricht, stellt eine Art Zwischenprodukt der Vereinigung dar, indem er zwar die androgyne (doppelgeschlechtliche) Eigenschaft des infans solaris besitzt, aber eben noch nicht lebt. Es handelt sich somit um eine potentielle Neuschöpfung. Um diese zu inkarnieren und derart den doppel-triadischen Hermaphroditus zum Leben zu erwecken, ist eine weitere Operation nötig, und in eben dieser spielt der Mensch als Mitschöpfer eine große Rolle.

Wie im wirklichen Tod verläßt die Seele, wie im folgenden Bild dargestellt wird, den Körper und steigt in den Himmel empor. Diese Symbolik konnte der mittelalterliche Mensch nur in einer Art und Weise deuten: Die Seele vereinigt sich dort mit dem göttlichen Geist. 

In der Alchemie des Paracelsusschülers Dorneus wird dieser Vorgang als die erste Stufe seines Opus geschildert, als die so genannte unio mentalis, in der der Körper "abgetötet" und Geist und Seele zur Geist-Seele vereinigt werden. Jung deutet diesen Vorgang tiefenpsychologisch als seine aktive Imagination. Hier zeigt sich denn auch die besondere Gefahr von Jungs Imaginationstechnik, kann sie doch ganz konkret zu einer "Abtötung" des Körpers führen, sei es in einer schweren Krankheit, sei es sogar im frühzeitigen physischen Tod.

C.G. Jung, dem diese Gefahr bekannt war und die in seiner Umgebung auch diskutiert wurde, geht meines Wissens in seinem Werk nie auf diese Problematik ein. In der Deutung des Rosariums verweist er jedoch darauf, daß im Fall der Unbewußtheit über die Notwendigkeit des Einsatzes imaginativer Techniken ein plötzliches, unbeabsichtigtes abaissement du niveau mental eintreten kann. Wir wissen heute, daß während der UFO-Sichtungen und den so genannten abductions, den Entführungen in am Himmel stationierte UFOs, eine solches unbewußtes Absinken der Bewußtseinsschwelle geschieht, in der das physikalische Raum- und Zeitgefüge völlig aufgelöst wird. Darin werden nämlich in kürzesten Augenblicken physikalisch unmögliche Strecken zurückgelegt und eben solche "Zeitsprünge" absolviert (vgl. dazu A New Melody, a New Genesis).

Diese Ausführungen zeigen, daß an dieser Stelle des alchemistischen Opus ein wirklich neuer Vorgang beginnt. Da Jung, wie erwähnt, den Prozeß der coniunctio noch nicht verstehen konnte, weiß er sich auch hier nicht anders zu helfen, als darauf hin zu weisen, daß sich dieser "der wissenschaftlichen Darstellungskunst entzieht" und hier das "Geheimnis" beginnt. Da dieses Noch-nicht-Gewußte einem potentiellen zukünftigen Wissen (symbolisch = "Kind") entspricht, kommt er anschließend folgerichtig auf den oben schon erwähnten Kind-Archetypus, das heißt, auf die Geburt des göttlichen Kindes, zu sprechen, die auch im Rosarium gleich folgen wird.


Teil 2


 

zu diesem Thema siehe auch: Hauchkörper-Forschung

English Homepage Remo F. Roth

back

18.5.2003