Der Tantriker findet gewisse voneinander unterschiedene
"Bewusstseinszustände" in den sieben Chakras des menschlichen Astral-
oder Hauchkörpers. Die introvertierte und introspektive Phantasie der Tantriker
hat aus dem vorbewussten Wissen des kollektiven Unbewussten heraus gewisse
symbolische Aequivalente zu diesen Chakras entstehen lassen, welche als die
tantrischen Chakra-Mandalas heute Weltberühmtheit erlangt haben (vgl. Abbildung
5.4 und 5.5).
Abb. 5.4
Da die ersten vier dieser Mandalas für unsere Zwecke
von spezieller Bedeutung sind, habe ich diese im Abbildung 5.5 zusammengefasst.
Neben anderen Symbolen enthalten die ersten fünf
Chakra-Mandalas auch immer ein Tier. Dieses symbolisiert die spezifische
Eigenschaft jedes Mandalas. Im
muladhara - es befindet sich ungefähr am Ende des Steissbeins - ist ein
Elephant dargestellt.
Da der Inder den Elephanten domestiziert und damit
symbolisch gesehen aus der "Kultur" der Jäger und Sammler in jene der
Ackerbauern hineingeführt hat, stellt dieser die Domestikation der psychischen
Energie dar. Wir haben aber im vierten Kapitel gesehen, dass bei der
Sesshaftwerdung (Domestikation) des Menschen die im Wander- und Jagdtrieb nicht
mehr benötigte Energie in den Explorationstrieb floss und damit seine Neugierde
und Entdeckerfreude befruchtete. Der Elephant und damit das muladhara
bilden deshalb ein ausgezeichnetes Symbol für den Explorationstrieb.
Das nächsthöhere Chakra svadhisthana
- ungefähr 3 cm unter dem Bauchnabel - enthält den Makara, ein fischähnliches
Tier. In der Alchemie bildet der Fisch mit dem Drachenstein ein Symbol für den
Liebeszauber. Auch in Träumen modernen Menschen taucht er des öfteren als ein
Symbol der Sexualität auf. Und natürlich erinnert der offene Mund des Makara
an die Vagina. Das Element Wasser des
svadhisthana bringt dieses zudem mit dem Urogenitaltrakt zusammen. Es
lässt sich daher zwangslos als ein Symbol des Sexualtriebs deuten.
Das dritte Chakra manipura
- auf der Höhe des Solarplexus - wird durch den Widder charakterisiert. Dieser
bildet ein Attribut des Gottes Agni, des Feuergottes und grossen Zerstörers.
Eine Zuordnung des Aggressionstriebes zu diesem Chakra drängt sich also
geradezu auf.
Diese ersten drei Chakras befinden sich unter dem
Zwerchfell und werden allgemein als die "niederen" bezeichnet. Meine
obige Deutung der zugehörigen Tiersymbole bringt sie deshalb mit der
Triebtriade von Exploration, Sexualität und Aggression zusammen.
Das vierte Chakra
anahata - auf der Höhe des Herzens - enthält die Gazelle. Diese
stellt ein ausgezeichnetes Symbol für die flüchtigen Gedanken, Gefühle,
Affekte und Empfindungen dar, welche aus der Triebtriade stammen. Diese
sind nur im tief introvertierten Zustand der Aktiven Imagination wahrnehmbar, in
welcher diese subliminalen Impulse (Lanzen- und Blitzsymbolik!) aus dem
Unbewussten in einer Haltung der Vorurteilslosigkeit, der Unwissenheit und der
"Dummheit" bewusst erfasst werden können. Diese Haltung ist jedoch
nur einem Ich-Bewusstsein möglich, welches sich von der Identifikation mit dem
extravertiert-rational Erfassbaren gelöst hat und der objektiven Psyche (dem
kollektiven Unbewussten) eine eigene, vom Ich unabhängige Existenz und das
zugehöriges vorbewusste Wissen zugesteht.
Ich deute deshalb das
anahata, das Herz-Chakra, als einen neuartigen Bewusstseinszustand, in
welchem das Ich sich in einer ersten Phase der Introversion annähert, das
heisst Träume und andere Spontanmanifestationen des Unbewussten ebenso
wahrnimmt, wie die Ereignisse der Aussenwelt. Daraus entwickelt sich in einer
zweiten Phase ein Habitus, in welchem sich dieses Bewusstsein sowohl
introvertiert als auch extravertiert verhält, das heisst seine Aufmerksamkeit
gleichzeitig seiner Aussenwelt und seiner Innenwelt zuwendet. Diese Haltung
stellt die notwendige Bedingung zur Wahrnehmung synchronistischer Phänomene
dar. Wie wir am Schluss des sechsten Kapitels sehen werden, erlebte auch ein
berühmter Vertreter der Quantenphysik, der Nobelpreisträger Wolfgang Pauli,
eine Vision, welche ihm dieses neue synchronistische Bewusstsein nahelegen
wollte.
Das Verblüffende an der Symbolik des anahata besteht
darin, dass es den doppeltriadischen Stern des Siegels Salomos enthält, welcher
der Lilie (und den zwei mal drei "Speichen" des unten zu deutenden
Radbildes) in Niklausens Vision symbolisch aequivalent ist. Da die Zahl Sechs
wie keine andere mit dem Kreis verbunden ist, erhalten wir als erstes Resultat,
dass diese Kreissymbolik zu jener des Herzens gehört. Da wir andererseits
wissen, dass der Kreis der ursprünglichsten und ältesten Vorstellung des
Göttlichen entspricht, können wir zweitens schliessen, dass ein erneuertes,
doppeltrinitarisches Gottesbild symbolisch gesehen im Herzen zuhause sein muss.
Das menschliche Herz gilt denn auch in der Mystik ganz allgemein als der Ort, wo
der Mensch sich mit dem Göttlichen vereinigt. Psychologisch ausgedrückt heisst
dies, dass ein Austauschprozess zwischen dem Ich und dem Selbst - welches
gemäss C.G. Jung dem Gottesbild entspricht - in einer unten noch näher zu
spezifizierenden Weise mit dem menschlichen Herzen verbunden sein muss.
Wir ersehen aus der tantrischen Symbolik in Abbildung
5.4 un-mittelbar, dass das Herz-Chakra mit seinem doppeltriadischen Stern die
Mitte zwischen drei unteren und drei oberen Chakras bildet. Das anahata verbindet
somit einerseits die „niederen" Chakras mit den „höheren",
andererseits kann das in ihm enthaltene doppeltriadische Siegel Salomos als eine
konzentrierte Zusammenfassung dieser drei unteren mit den drei oberen Chakras
angesehen werden.
Wie ich im vierten Kapitel gezeigt habe, symbolisiert
auch in der Alchemie das Siegel Salomos die Vereinigung ei-ner unteren mit einer
oberen Triade beziehungs-weise Trinität. Dass dieses mit dem Herzen
zusammenhängt, konnten wir dort allerdings nur indirekt - über die Darstellung
des Opus als Prozess im Pelikan (der dem Herzen entspricht) - nachweisen.
Der entscheidende Fortschritt des Tantrismus im
Vergleich zur Alchemie besteht nun aber darin, dass sich dieses Siegel Salomos
in der Herzgegend befindet, woraus folgt, dass eben in diesem menschlichen
Herzen eine Transforma-tion der psychischen Energie der Triebtriade in eine
obere, das heisst in eine geistig-archetypische Triade stattfindet, welche
offensichtlich durch die oberen drei Chakras symbolisiert wird. Wir verstehen
derart nun besser, warum das vorbewusste Wissen der objektiven Psyche den
Alchemisten dazu drängte, das Opus mit dem physikalischen Prozess im
Pelikan-Gefäss zu parallelisieren. Doch sehen wir gleichzeitig, dass die
Alchemie noch nicht in der Lage war, Prozess und Ziel - Pelikan und Siegel
Salomos - in einem einzigen Symbol auszudrücken.
Wie haben weiter gesehen, dass durch den alchemistischen
Transformationsprozess eine neue obere Trinität aufgebaut werden soll, welcher
ich die archetypischen Prinzipien des Logos, des Eros und der Meditation
zugeordnet habe (vgl. dazu auch Abbildung 5.4). Auch der buddhistische Tantriker
ist bestrebt, durch eine Me-di-tation (buddhistisch: DHYANA) die beiden
Prinzipien der schöp-ferischen Erkenntnis (PRAJNA) und des aktiven Allerbarmens
(KARUNA) aufzubauen. Diese Meditation bezieht sich da-bei auf die
"Triebkräfte", die er nicht etwa verneint oder vernichten will,
sondern "im Feuer der Erkenntnis zu läutern und umzuwandeln (sucht), so
dass sie zu Kräften der Erleuchtung werden". Die Vereinigung von PRAJNA
und KARUNA "stellt den vollkommenen Pfad der Erleuchtung dar". Wenn
nämlich PRAJNA, "das ruhende, allumfassende, alles in sich aufnehmende und
alles aus sich hervorbringende 'Ewig-Weibliche', vereint ist mit dem
dynamisch-männlichen Prinzip des aktiven Allerbarmens (KARUNA), der
alldurchstrah-lenden Kraft tätiger Liebe..., dann ist die vollkommene
Buddhaschaft erreicht. Denn Verstand ohne Gefühl, Wissen ohne Liebe, Erkenntnis
ohne Mitleid, führt zur reinen Negation, zur Erstarrung, zum geistigen Tod, zum
blossen Vakuum; während Gefühl ohne Vernunft, Liebe ohne Erkenntnis (blinde
Liebe), Mitleid ohne Wissen, zu Verschwommenheit und völliger Auflösung
führt. Wo aber beide Seiten vereint sind, wo die grosse Synthese von Herz und
Hirn, Gefühl und Verstand, höchster Liebe und tiefster Erkenntnis
stattgefunden hat, dort ist die Ganzheit hergestellt, die vollkommene
Erleuchtung erreicht".
Wie wir aus diesen Zitaten ersehen können, auf die ich,
nebenbei gesagt, erst nach der Abfassung meiner obigen Erkenntnisse über die
Wandlung des christlichen Gottesbildes gestossen bin, ergibt sich eine
weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Ziel des tibetisch-buddhistischen
Tantrismus und dem Wandlungsprozess, dem wir westliche Menschen am Ende des
christlichen Zeit-alters uns werden unterzie-hen müssen.
In der Tabelle 5.5 habe ich versucht, das Resultat des
tiefenpsychologischen Prozesses demjenigen des buddhistischen Tantrismus
gegenüberzustellen.
Um sein Ziel zu erreichen, öffnet der Tantriker in
einem introvertiert-meditativen Prozess die Chakras von unten nach oben und
lässt die in ihnen enthaltene Energie in die Chakras über dem Zwerchfell, vor
allem einmal in das anahata fliessen. Dabei existiert im buddhistischen
Tantrismus ausdrücklich die Vorstellung, dass die sushumna, der die Chakras
verbindende Zentralkanal der Wirbelsäule (vgl. Abbildung 5.5), diese Chakras
durchsticht! Im hinduistischen Tantrismus durchbohrt die Kundali-nischlange die
Chakras von unten nach oben. Da sich die ersten drei Chakras im Bauch befinden,
ergibt sich derart auch im Tantrismus die Symbolik der "Lanze in der
Bauchwunde", welche psychologisch gesehen den Impulsen aus der Triebtriade
entspricht.
Die in Abb. 5.5 dargestellte Symbolik zeigt aber, dass
der Tantriker nun einen Schritt weitergeht, indem er diese Impulse aus den
unteren drei Chakras der Triebtriade in das anahata, in das vierte
Chakra, hineinleitet. Damit wird die symbolische Aussage der "Lanze in der
Bauchwunde" erweitert zu jener des "Lanzenstosses in das Herz"!
Wenn wir die tantrische Symbolik mit jener der
Herz-Jesu-Mystik vergleichen, stellen wir sofort fest, dass dieser die
Bauchsymbolik vollständig fehlt. Sie kennt das Motiv der "Lanze in die
Bauchwunde", das heisst psychologisch gesehen das Problem der verletzten
Instinktsphäre, nicht. Dies wird verständlich, wenn wir berücksichtigen, dass
schon die Kirchenväter sich von der Triebhaftigkeit vollständig absetzten.
Sofern wir nicht annehmen, dass die uns überlieferten Visionen der christlichen
Mystikerinnen von ihren Beichtvätern gereinigt wurden, bleibt nur der Schluss
übrig, dass diese Mystikerinnen den hoffnungslosen Versuch unternahmen, den
Prozess der Gotteswandlung von der Triebhaftigkeit abgelöst zu versuchen. Da
die Kirchenväter, wie oben erwähnt, schon sehr früh jede individuelle
introvertierte Meditation über das Gottesbild unterbunden haben, ist
anzunehmen, dass eventuell in den Mystikerinnen auftauchende
"blasphemische" Phantasien von diesen sofort verdrängt wurden, womit
nach der Aussage des Jesuiten Richstätter das Herz "dem Teufel und allen
Versuchungen verschlossen" blieb.
Da die Herz-Jesu-Mystik derart die Meditation über die
Äusserungen der luziferischen (Luzifer = Lichtbringer!) Triebtriade
verdrängte, war sie schliesslich zum Scheitern verurteilt und endete in einer
sentimentalen Romantik. In ihrer Endphase pervertierte diese in Heinrich Heine
vorerst in seiner sich vom geäusserten Gefühl distanzierenden ironisierenden
Dichtung und führte schliesslich im Sinne eines psychologisch folgerichtigen
enantiodromischen Prozesses in die Brutalität der Nazis hinein.
Wie wir oben gesehen haben, bejaht der Tantriker das
Vorhandensein der Triebhaftigkeit und möchte deren Energie veredeln, was sofort
an das Opus des Paracelsus erinnert. Zu diesem Zwecke ist er bestrebt, die in
den unteren Chakras gefangene Energie in das Herz-Chakra hineinzuleiten. Was
könnte dieser Prozess nun in einer psychologischen Terminologie bedeuten? Wir
haben schon bei der Besprechung des alchemistischen und des christlichen
Pelikans im vierten Kapitel gesehen, dass das Herz den Ort der Introversion
symbolisiert. Auch die Gazelle des
anahata weist auf einen Introversionszustand hin. Die Symbolik des
Lanzenstosses in das Herz bedeutet daher psychologisch gesehen die Umleitung der
affektiven Impulse aus der Triebtriade von Aggression, Exploration und
Sexualität in die Introversion. Sie entspricht damit der ersten Stufe des
paracelsischen Opus, in welcher die Exploration introvertiert und das meditative
Prinzip als gleichwertig anerkannt wird. Ein derart erneuertes Bewusstsein
befindet sich somit in der Mitte zwischen dem extravertiert-explorativen und dem
introvertiert-meditativen Prinzip, welche Haltung meiner obigen Deutung des anahata
entspricht.
Wenn wir die Mystik des Niklaus von Flüe mit der
Herz-Jesu-Mystik vergleichen, stellen wir fest dass bei ihm vorerst die Symbolik
der "Lanze in die Bauchwunde" auftauchte. Dies zeigt, dass er dem
tantrischen Prozess viel näher stand, als der Herz-Jesu-Mystik. Doch stellt
sich nun die Frage, wie der Schweizer Mystiker in den Prozess der "Lanze in
das Herz" hineinfinden konnte, den wir im Tantrismus gefunden haben. Zu
diesem Zweck werden wir uns nun der vierten Vision zuwenden.